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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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welchem Namen auch immer, fahren nach wie vor nur in Manhattan expreß und halten in Brooklyn an jeder Station, und das hätten sie ändern sollen: sagt Marie. Marie hält den nächsten Sommer für wahrscheinlich, sie bereitet sich auf die Reisen zum Baden vor, und sei es Ende November. Wenn sie nur vor dem Dunkelwerden nach Hause kommen wollte. Wenn sie jetzt vom Times Square abfährt, sollte sie in einer Viertelstunde vor der Tür stehen.
    Denn es gibt ein Vorurteil über die Subway, das wirklicher im Gefühl sitzt, und heißt: die Subway sei nicht gut für Kinder ohne Begleitung, und sei es ein männlicher Zehnjähriger, und sei er ausgebufft worden in den schlimmsten Ecken der Bronx oder Harlems. Das will Marie nicht wahrhaben. Sie will nicht verstehen und weist darauf hin, daß es seit fast vierzig Jahren keinen Unglücksfall in der Subway durch den Verkehr der Subway gegeben hat. Auf Zureden beträgt sie sich ein wenig genauer und zählt in übergeduldigem Ton, mit manchmal schnippisch hochfliegenden Satzenden auf was sie gelernt hat: sie hat gelernt, einen Rauschgiftsüchtigen zu erkennen. Einen Betrunkenen braucht sie nicht einmal mehr anzusehen. Sie wird in keinem Fall in einen Ubahnwagen gehen, in dem nur drei Passagiere sind, und wenn ein Polizist den Kurs begleitet, wird sie sich in seiner Nähe aufhalten. Sie hält nicht für möglich, daß ihr auch nur Einer der zweieinviertel Millionen Fahrgäste am Tag gefährlich werden könnte, und daß sie nicht schlauer und fixer ist als alle zusammen. Sie sieht sich nicht. Wenn sie unterwegs ist, sehe ich ein mageres Mädchen in einer Windjacke und weißen Hosen, das auf einem Eckplatz in der Subway hockt, den Kopf mit den Zöpfen rückwärts gegen die Wagenwand gelehnt hat und alles Bewegliche, Leute Fensterausschnitte Türen Gummiknüppel, in seinen Augen aufnimmt in einer so umfassenden, nahezu benommenen Art, daß sie aussieht als träumte sie. Zumindest sieht sie aus als könnte sie sich nicht wehren. Das will sie nicht wahrhaben, und noch wenn sie in verabredeten Abständen pünktlich zu Hause anruft, will sie nicht etwa den Warnungen ein Recht bestätigen sondern mit unendlichem Mitleid eingehen auf Flausen, die überängstliche Erwachsene nicht von sich tun können. Überdies haben wir uns auf einen Streit eingelassen, als sie vor zwei Jahren auf eigene Faust und ohne Ankündigung nach Flushing fuhr (um zu sehen wo wir beinahe gewohnt hätten) und erst eine Viertelstunde nach fünf Uhr und quietschvergnügt von einem Ort namens Queens Plaza anrief; nun müssen wir über ihre Fahrten vorsichtig sprechen, beiläufig, um ja keinen Triangel in den Frieden zu reißen. Manchmal würde ich es vorziehen, sie nähme schlicht und einfach Verbote an.
    Jetzt kommt Marie durch die Tür, achtzehn Minuten nach ihrem Anruf vom Times Square, und hat ein Exemplar der neuen Karte für die Ubahn mitgebracht. Nun werden wir sehen ob dies ein Kind ist, das etwas hält von Tradition.
    Über dem Telefon hängt unser alter Plan, gestiftet von Union Dime Savings. An den Rändern ist er beschädigt mit notierten Nummern, er mag auch in den Brüchen kurz vor dem Reißen sein schon aus der Zeit, als ich ihn auf Wohnungsuche in der Manteltasche durch New York trug. Aber auf der Karte sind weiterhin die Zeichen, mit denen Marie die von ihr benutzten Bahnhöfe abhakte und Umsteigepunkte umrandete, da steht auch ihre ungefüge Kindergartenschrift, einzelne Worte in den Hudson, in den Atlantik, in den Central Park geschrieben. Wird sie die alte Karte der neuen opfern?
    Die neue Karte der Ubahnlinien ist größer, ein elegantes Ding, zum größeren Teil weiß, mit einer ausgesuchten Mischung von acht Farben besprenkelt. Die Ufer sind einen Schatten tiefer nachgezogen als das Wasser blau ist, wie in einem nicht ganz ungefährlichen Traum. Alle Linien sind säuberlich parallel oder in Winkeln übereinander gelegt, in schulmäßige Kurven gebracht und in ein Verhältnis gesetzt, das Ausgewogenheit und Vollkommenheit vortäuscht. Einzig die Linie GG , Queens/Brooklyn, hat einen eckigen Bauch, der zu weit nach Südostost durchhängt. Am Grand Concourse an der 138. Straße scheint etwas mißverständlich, da verdeckt das Verzeichnis der haltenden Züge, daß die Linie 2 einen Bogen nach rechts macht; da wird man in Zukunft mehrmals hinsehen müssen. Zugestanden, es entspricht einer vorherrschenden graphischen Mode. Wird es an unsere Wand kommen? Was wird nun mit der Vergangenheit?
    Marie nimmt

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