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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Marie, keine vier Jahre alt, nicht ein bißchen; allerdings horchte sie dem Geräusch ihres ersten Zuges entgegen und nahm die Hand der Mutter fester in den Griff und schloß für einen Moment die Augen, als die schwere Wagenkolonne an ihr vorbei ausrollte. Dann mußte sie nur noch lernen, daß sie in ihrem Tarifcharakter als Kleinkind sich unter den Drehkreuzen der Eingänge hindurchbücken mußte, ungern, weil sie die schützende Hand dabei aufgeben mußte, und daß die Wagentüren ohne Ansage und Warnung zusammenklappen, so daß ein Kind die ungescheite Mutter sehr eilig hinter sich her ins Innere reißen muß. Es dauerte nicht lange, und sie bevorzugte die Eckplätze, nicht nur wegen deren Nähe zum Ausgang, auch aus Gründen des Komforts. Und sie begann mich bei der Aussprache des Wortes »subway« zu verbessern, als sei der vierte Buchstabe dem deutschen w nie ähnlich gewesen.
    Wir haben uns leicht gewöhnt, und mit Hilfe der Vor-Urteile. Da waren Leute zurückgekommen aus New York nach Düsseldorf und nannten die Lebensbedingungen in der Subway unmenschlich, erstens im allgemeinen, zweitens zu den Zeiten des Stoßverkehrs. Es war nicht wahr. Gewiß, es ist vorgekommen, daß wir nicht nur an den Rand des Bahnsteiges sondern auch genau vor eine anhaltende Tür geraten waren und daß die Wartenden hinter uns alles vor sich in den Wagen schoben wie eine übermenschliche Faust; aber die Leute im Wagen wichen weich vor uns zurück, und immer wurde für Marie ein größerer Hohlraum aufgemacht als sie ihn zum Atmen brauchte, und allewege kamen die Fahrgäste zu dichter Berührung nur in den kurzen Wirbeln des Aus- und Einsteigens und nicht während der Fahrten, wo Jeder um sich einen Abstand hielt, und sei er hauchdünn, sogar die unbehilflich dicken Frauen, unter denen die Negerinnen, hochatmend, alle Bewegungen des Körpers wie in einem Kreiselsystem abfangend und zusammenhaltend, in der Anmut am besten abschnitten. (Amanda ist sicher, daß sie einmal im Gedränge Sperma auf die Mantelschöße bekommen hat. Es ist mir so nicht gegangen; also ist mir ihre Meinung von der Subway nicht erreichbar.) Jetzt habe ich sechs Jahre lang an allen Arbeitstagen die Zeit kurz vor neun Uhr und kurz nach siebzehn Uhr in der Subway verbracht und nur wenige Male darauf verzichten müssen, die New York Times zumindest anzulesen. Ein Hoch auf die Subway von New York.
    Das erste Mal ruft Marie an von der Chambers Street (gibt sie an). Es ist also tatsächlich, daß die Verkehrsbehörde das System der Ubahn nicht mehr gruppiert nach den drei Gesellschaften, aus denen es zusammenwuchs, IND , BMT , IRT , und 1940 endgültig im Besitz der Stadt vereinigt wurde. Unsere Gruppe hieß Interborough Rapid Transit; davon ist nicht die Abkürzung geblieben und nicht die schwarze oder dunkelblaue Farbe ihrer einzelnen Linien auf den Plänen. Unsere Leibzüge, früher benannt nach dem von ihnen unterfahrenen Broadway und der Siebenten Avenue, heißen jetzt nur noch 1, 2 und 3 und sind auf dem geänderten Plan in den Farben Orange, Hellblau und Knallrot gekennzeichnet, übrigens leicht zu verwechseln mit der Linie E in Queens oder der 8, der Hochbahn über der Dritten Avenue in der Bronx, wenn Einer das Verhältnis der Stadtteile nicht fest im Kopf hat. Von Marie kann man sagen: sie hat es in ihrem Kopf. - Nun werde ich mal die Sechste Avenue vornehmen: sagt sie.
    Ein anderes Vorurteil, das nach Westdeutschland angetragen worden war, sagte den New Yorkern eine geradezu fürchterliche Eile nach, ob nun auf der Straße oder in der Ubahn. Es war dann nicht wahr. Auf den Stationen der Ubahn ist nicht eine einzige Normaluhr ausgehängt, so daß Jeder selbst sich seine Eile zurechtdenken muß, ohne Hilfe von seiten der Transitbehörde. Noch auf den bedrängtesten Bahnsteigen bewegen sich die Menschen, als hätten sie ein Funkmeßnetz rund um sich, und stoßen den Nachbarn nicht an; die Laufenden fallen so ungewöhnlich auf, daß sich unter ihrer Annäherung eine Bahn inmitten der anderen Wartenden bildet. In den niedrigen Gängen unter dem Bahnhof Grand Central, wenn Tausende unterwegs zu den tiefen Schächten der Subway sind, beim ersten Mal ist das langsame Vorantreiben der Menschen unheimlich, dann setzt doch ihre Geduld und Disziplin sich durch als Eindruck, und Vertrauen. Und wenn einmal unter dem Times Square die Gehströme trotz der Kettenabsperrungen in einander verfilzen, die Kondukteure rufen doch nur »Schreiten Sie beschwingt!« und nicht

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