Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
sollte. Und Gosling war neugierig. Er sah den Deutschen auf dem Bahnhof von Richmond auf einen Zug zur Stadt warten und fuhr ihm hinterher in den Norden bis an die Seven Sisters Road und stieg ihm nach bis in die Seitenstraße, in der der Deutsche an der Tür eines Einfamilienhauses läutete. Der Deutsche kam nach so kurzem Wortwechsel zurück, daß Gosling nicht auf große Beute hoffte, als er selber an die Tür ging. Ihm öffnete eine Frau, eine Zimmervermieterin, die früher allein in dem ehemals stattlichen Gebäude gewohnt haben mochte, und Gosling vertraute auf leichtes Spiel mit Leuten, die in Not geraten waren. Anfangs wehrte sie sich gegen seine Fragen. Gosling gab ihr in einer ganz unnachsichtigen Art zu erkennen, daß sie sich strafbar mache, wenn sie die Arbeit der Polizei behindere. Nun wurde die Frau geradezu eifrig, und wenn sie einmal zögerte, brauchte Gosling nur etwas schärfer zu schnarren und seinen Akzent um eine Stufe anzuheben. Der Fremde hatte nach einer Mrs. Trowbridge gefragt. Er war zum ersten Mal gekommen. Mrs. Trowbridge hatte hier im September 1931 zwei Zimmer im oberen Stock genommen. Sie sei ausgezogen, als die anderen Mieter sich über das Geschrei des Kindes beschwerten. Eine Dame, eine rücksichtsvolle, unaufdringliche Person, aber eben mit einem Kind, das manchmal quarrte. Und der Mann von Mrs. Trowbridge? Mrs. Trowbridge war eine Witwe. Und wohin war sie gezogen? Zu Verwandten in der Gegend von Bristol, aber sie hatte eine Adresse nicht hinterlassen, wozu auch, hatte doch still für sich gelebt.
Gosling wäre weniger enttäuscht gewesen, hätten seine kriminalistischen Künste ausgereicht für eine Frage nach der Reaktion des Deutschen auf die vergebliche Auskunft, die eben nicht vergeblich gewesen war. So erfuhr er vorläufig nicht, daß Cresspahl, offensichtlich verdutzt für einen Moment, gesagt hatte: Was für ein Kind? Wieso ein Kind?
Das war im Juli, als das Licht noch rein weiß war und ohne den bräunlichen Stich, den die austrocknende Vegetation im August in die Landschaften hängt.
28. November, 1967 Dienstag
Die New York Times zehrt noch immer von dem umwälzenden Ereignis, das ihr die Änderungen im Betrieb der Subway bedeuten. Auf der ersten Seite, zwar am Fuß, bringt sie nicht weniger als drei Fotografien von Passagieren in konfuser Verfassung, jede mit absichtlich humorvollen Unterschriften, so der, daß ein Zugführer wohl anderen Bescheid sagen kann, jedoch über den eigenen Heimweg nachdenken muß. Sie zitiert einen hohen Beamten der Verkehrsbehörde, der sich darüber freut, daß in manchen Zügen nun nur noch 105 bis 110 Leute je Wagen zur Arbeit fahren, statt wie früher 180 bis 212. Deswegen zitiert sie ihn nicht allein. Er hat auch den Begriff eines »Komfortpegels bei 180« Fahrgästen eingeführt. Was mag das sein? Ein »Komfortpegel« in der Ubahn ist gegeben, »wenn ein Mann im Stehen die New York Times lesen kann«: berichtet die New York Times.
Gestern hat ein Vertreter der Firma Dow Chemical vor Studenten in Washington Heights die Herstellung von Napalm und dessen Lieferung an die Armee verteidigt. Zunächst einmal hält jener Dean Wakefield den Krieg in Viet Nam, »im ganzen gesehen«, nicht für ein moralisches Problem. Dow Chemical erfülle einfach die Verantwortung gegenüber den nationalen Verpflichtungen einer demokratischen Gesellschaft (in Viet Nam). Übrigens sei der Kampfstoff so einfach zu machen, die Armee wäre selber dazu imstande. (Die New York Times erklärt: was Napalm ist.) Die Familie der Krupps nennt Wakefield »schlechte Menschen«. Auf die Frage, woher er die Maßstäbe beziehe, mittels deren er moralische Urteile über geschäftliche Unternehmen fälle, antwortete Mr. Wakefield: Aus der Geschichte. »Aus der Geschichte.«
Haushaltsprodukte der Firma Dow Chemical kaufen wir schon lange nicht mehr. Aber sollen wir auch nicht mehr mit einer Eisenbahn fahren, da sie an den Transporten von Kriegsmaterial verdient? Sollen wir nicht mehr mit den Fluggesellschaften fliegen, die Kampftruppen nach Viet Nam bringen? Sollen wir verzichten auf jeden Einkauf, weil er eine Steuer produziert, von deren endgültiger Verwendung wir nichts wissen? Wo ist die moralische Schweiz, in die wir emigrieren könnten?
Die Post besteht heute aus einem Brief mit sehr großen Marken. Dargestellt ist darauf jeweils eine Eiche sowie ein Mensch mit einem Buch. Der Stempel hat darüber ein Jerichow ohne w gedrückt. Dort habe ich zehn Jahre gelebt.
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