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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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ihn von außen hielt und Marie am anderen Ende sah, war ich nur wenig beunruhigt.
    Das Aufräumen bestand aus dem Ordnen von großen Ausschnitten aus Zeitungen, meist Bildern. Die Ausschnitte waren handschriftlich datiert, beim Ablegen mußten sie nach links umgelegt werden, damit die Reihenfolge umgekehrt wurde. Das Ordnen ging vor sich in einem Raum, den die Wohnung vorher nicht hatte, in einer Kammer seitlich hinter der langen Wand des Wohnzimmers. Im Wohnzimmer war Bewegung von Leuten, Schritte und Gespräch, störend genug, daß ich mich um fünf Blatt vertat. Während ich die falschen Schritte in den Papieren zurückging, sah ich in der Tür auf dem verrückten Sofa einen jungen Mann in der Uniform eines amerikanischen Sergeanten, den ich nicht kannte, neben ihm seine Frau, eine kraushaarige, braunäugige Person mit wilden Lippen, mit der ich vielleicht auf einer Schule war, nicht in Jerichow; was mich gestört hatte war etwas, was Marie im Hintergrund des Sofas sagte.
    – Soll ich dich in eine Decke einschlagen?
    Auf dem Gästefeldbett war nun die Tote zu sehen, eine Figur, schmaler und kürzer als im Leben, in einer weichen und hilflosen Haltung, der Kopf schon halb eingeschlagen in die Haare. Die Figur trug ein fremdes braunes Kleid. Nie habe ich Braun gern getragen.
    Ich wußte den nächsten Gedanken, konnte ihn nur nicht denken: Ich war tot, mindestens seit ich den Fahrstuhl gehört hatte, wahrscheinlich schon seit dem vorvergangenen Abend. Soviel hatte ich noch wahrnehmen können. Nun aber mußte ich die Leiche aufsuchen, ehe die Kraft mir ganz ausging, und die Leiche sein.
    Das Kind rief mich zur Arbeit. Marie stand am grauen Fenster, morgens, in der Dämmerung, und hielt mit beiden Enden ein Taschentuch gegen das geringe Licht. Das Taschentuch war sonderbar quadratisch, und seltsam hell. Ich stellte mich vorsichtig hinter das Kind. Zwischen Maries Fingern erschienen Bilder auf einer strahlenden Leuchtfläche, nie gesehene, nie fotografierte Bilder in kalten genauen Farben:
    Lisbeth Cresspahl im Sarg
    Lisbeth Papenbrock im Alter von sechs Jahren, in langen Haaren liegend wie schwebend, im Profil
    die Scheune, bevor sie abbrannte
    ein Huhn, das von unten eine Erdbeere lospickt
    sehr rasch sehr lange überflogene Ostsee
    die in das Empire State Building gerissene Ecke
    aber man durfte sich nichts wünschen, und nicht das Tuch kippen oder bewegen, und nichts sagen.
    – Gib mir das Tuch, Marie.
    Das Kind wandte sich um. Das war eine fremde Person, einen halben Kopf größer als ich, mit langen sandgrauen Haaren. Das Gesicht war verschattet. Sie faltete das Tuch zusammen und drückte es mir höflich in die Hand. Es fühlte sich weich und schmutzig an, wie ein Polierlappen, und machte Flecken in die Hände und wurde allmählich warm und war die Decke, in der ich getragen wurde. Es war nicht unangenehm.
    Geblieben davon ist bis heute das Gefühl des Getragenwerdens und Taubheit. Manchmal mußte ich mir etwas vorsagen: dies nennt man Kandelaber, dies ist ein Feuermelder, Maries Erdkundeheft, der Bus Nummer 5. Dann ging es wieder. An der nördlichen Ecke der 42. Straße mit der Dritten Avenue dürfen die Regenfälle knöchelhohe Lachen stehen lassen, so daß viele tausend Leute ihnen auf den durch Rotlicht geräumten Fahrbereich des maschinellen Verkehrs ausweichen, das müßte doch bekannt sein. Wie man abends an der selben Stelle im Eingang zur Flushingbahn nach rechts drängt, sorgenvoll den starken Zug der Luft durch die Schwingtüren hinnimmt, sich in die Gasse reiht, in die das Gedränge drei Schritt vor den Drehkreuzen sich verwandelt, wie man danach nach links zur Treppe schwenkt, wie man unten angelangt auf dem Bahnsteig bis zur genauen Mitte des Zeitungskioskes vordringt, bis zum vordersten Türengang eines ausgerechneten Wagens, so daß man beim übernächsten Halt exakt gegenüber dem Ansatz jener Treppe steht, die zur Westseitenbahn führt, das sollte doch bekannt sein. Daß die Bahnsteige der IRT am Mittwochmorgen leerer scheinen als an anderen Tagen, das weiß man doch. Daß die Bahnsteige der IND an der 59. Straße am Morgen voller sind als am Abend, liegt an den Leuten, die im Bekleidungsgewerbe in den dreißiger Straßen arbeiten und infolgedessen eine Stechuhr zu bedienen haben, das könnte man sich denken. Daß der Riverside Drive vor unserem Haus ein S macht, auf dem ein unendlicher Leuchtwurm auf uns zukriecht, es ist so oft gedacht.
    Die Lampe, die den Haupteingang anstrahlt, scheint neu

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