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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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mit Gas gewöhnt, und Papenbrock wollte es seiner Tochter um so lieber bequem machen, als die Stadt dafür bezahlte. (Eigentlich gehörte das Gaswerk zu zwei Dritteln den adligen Nachbarn, aber Papenbrock hatte so mit ihnen gesprochen, als würden sie nur und höchstens ein Drittel der Arbeiten bezahlen.) Es war Cresspahl nicht recht. Papenbrock sah nur den Gewinn dabei; er hatte in seiner List übersehen, daß er die Wirtschaft seines Schwiegersohns in einer Weise unter die Fittiche nahm, als könne der nicht selbst für sich sorgen.
    Cresspahl fiel es nicht leicht, schnell in Jerichow anzuwachsen. Es war nicht, daß die Gegend anders war als um Malchow, kahler, kälter, ziemlich baumlos. Es war nicht die Fremde. Er war auch in Malchow fremd gewesen. In den Niederlanden, in England auch. Er brauchte das nicht, wie Lisbeth, daß er von jedem Fenster wußte, wer dahinter wohnte. Die Fremde war immer gut für ihn gewesen, wenn auch nicht zu ihm. Hier fehlte etwas. War es, daß die Stadt so klein war, so allein auf dem flachen Land? War es Avenarius Kollmorgen mit seinem unermüdlich wiederholten »Gut bei Sach, Herr Cresspahl?«, mit seinem verschwörerischen Mienenspiel, das ungeheure geheime Kenntnisse andeuten sollte? War es das Leben im Haus und nach den Gewohnheiten von Albert Papenbrock? War es das, daß ein Mensch hier den rechten Arm hochheben mußte, wenn ein anderer auf der Straße mit einer Fahne spazieren ging?
    Den ganzen Dezember über dachte Cresspahl noch an einen Entschluß für den Fall, daß Jemand hier versuchen sollte, ihm an den Wagen zu fahren. Er dachte, er sei entschlossen, Lisbeth und das Kind unter den Arm zu nehmen und aus dem Land zu gehen. Er dachte, er werde das tun.
    Dann war Weihnachten.

3. Dezember, 1967 Sonntag
    » DAS ZITAT DES TAGES : ›Kardinal Francis J. Spellman, Erzbischof von New York, ist an diesem Tage im Krankenhaus St. Vincent um 11:45 Uhr vormittags verschieden. Möge er in Frieden ruhen.‹ Eine Nachricht, die über die Fernschreiber der Polizei kam.
    …
    Der Sprecher sagte, der Kardinal habe sich vorher wohl gefühlt und habe sogar von der Möglichkeit gesprochen, wieder nach Viet Nam zu gehen, um Besuche bei den dortigen amerikanischen Truppen zu machen.
    …
    Mauerstein und Mörtel des Kardinals, auf einen Wert von mehr als einer halben Milliarde Dollar geschätzt, erstreckten sich über eine Erzdiözese von 12 217 Quadratkilometern. Eingeschlossen waren Staten Island, Manhattan und die Bronx in New York Stadt sowie die Bezirke Westchester, Putnam, Dutchess, Orange, Rockland, Sullivan und Ulster.
    …
    Der Kardinal ist Hunderttausende von Meilen gereist, viele davon als Haupt des Militärischen Ordinariats. Dies kam einer zweiten Erzdiözese gleich, die sich über die ganze Welt ausdehnte, wo immer amerikanische Truppen standen. Mit dem Zweiten Weltkrieg begann der Kardinal seine Besuche in Ausbildungslagern, bei Flotten auf See, auf Luftwaffenbasen und an Kampffronten.
    …
    Der Kardinal war ein geselliger Mann und mit einer Mannigfalt von Personen in seinem Element. Diese Eigenschaft war ein Rätsel für einige seiner Freunde, die nicht begreifen konnten, wie er, anscheinend in gleichem Maße, die Gesellschaft eines ernsthaften Intellektuellen und die eines lebensfrohen Jachtbesitzers und Rechtsanwaltes genießen konnte.
    …
    Er hörte gerne Lieder singen, insbesondere irische Balladen. Ein Lieblingsstück war ›Danny Boy‹, und ein Monsignore in seiner Belegschaft, der mit einem guten Tenor ausgestattet war, wurde des öfteren herbeigerufen und mußte diese und andere sentimentale Weisen singen.
    …
    Aber was denkwürdig war inmitten der Opulenz seiner Gewänder war sein Gesicht. Es war rund, milde, strahlend, fast cherubisch. Die Stirn war hoch, die Ohren groß, die Nase ein wenig spitz, und der Blick der dunkelblauen Augen, die durch altmodische ungefaßte Brillengläser spähten, war beständig. Das Gesicht teilte ein Gefühl der Fröhlichkeit mit, das sogar lange Stunden voll Zeremonie selten abzustumpfen schienen.
    …
    Sein Vater hatte einen trockenen Witz. ›Mein Sohn‹: so pflegte er dem Jungen zu sagen: ›tu dich immer mit Leuten zusammen, die schlauer sind als du, und es wird dir nicht schwer fallen, sie zu finden.‹
    … als er zu Weihnachten nach Süd-Viet Nam reiste. In einer Ansprache vor amerikanischen Truppen erklärte er: ›Dieser Krieg in Viet Nam ist, für mein Gefühl, ein Krieg für die Zivilisation.‹ Im weiteren äußerte er,

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