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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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hört sich nach einer Arbeit an: nach Messern gegen Holz, nach Hammer gegen Nägelköpfe, nach Schaben, nach Scheuern. Sie hat die Arbeit mit ihrem Bett und ihrer Kleidung und ihrer Ordnung; sie stellt auch jeden Abend die Tüten mit dem Müll nach draußen vor die Tür des Lastenfahrstuhls, damit ich nicht aus den Resten und Abfällen ihres täglichen Pensums etwas ahne. Sie hat versprochen: es wird vielleicht nicht reichen für eine Freude, aber es werde einem Wunsch nahekommen, von dem ich nicht wisse, daß ich ihn habe.
    Die Stimmen in Maries Zimmer waren unverständlich geworden, seitdem sie wußten, daß ich in der Wohnung war. Deutlich war nur, daß die beiden flüsterten, die eine heftig, die andere abwiegelnd. Unverhofft kamen sie heraus, und während Marie mit den Händen hinter sich ihr Geheimnis wieder verschloß, stellte Francine sich vor mir auf und erledigte die Begrüßung und den Abschied in einem. Sie wartete, ob ich ihr die Hand entgegenhielt, und sie hielt die Lider gesenkt, so daß ihr entging, ob sie eine einladende Miene vor sich hatte oder eine andere. Sie machte einen Knicks und sagte: Good night, madam.
    Sie hatte den Mantel schon an, und die Schultasche in der Hand, und war gleich an der Tür zum Korridor. Wenn sie verwirrt war, wurde es nun schlimmer. Im offenen Fahrstuhl stand Mr. Robinson und wünschte mir auf eine eindringliche Weise einen guten Abend wie ein guter Freund der Familie, der er ist, und im Foyer standen Jason und Shakespeare und betrachteten so fachmännisch wie sorgenvoll die Fliese, die nun nicht mehr bloß einen Riß hatte, sondern endlich in kleine unflickbare Stücke zerborsten war. Von dem, der Shakespeare genannt sein will, wußte Francine immerhin, daß er eine Wohnung in Brooklyn hat (ein schwarzer Arbeiter mit einer eigenen Wohnung) und daß darin zumindest ein Schrank steht, fest genug, um darin die Marken von unseren Briefen aus Europa zu sammeln und daß er Schäden in unserer Wohnung behebt für nichts als gute Worte. Aber er war der zweite, und Jason war der dritte »gefärbte« Mann, der uns eine gute Tageszeit bot, als wünsche er uns das tatsächlich, als lebten wir wie gute Nachbarn, als kennten wir einander und es wär uns recht. Die kleine schwarze Person rannte aus der Tür, als wären sie alle hinter ihr her. In der Eile hatte ich wieder ihr Gesicht nicht recht wahrgenommen und weiß nur noch, daß sie mir vorgekommen ist wie ein Kind, das viel liest und wenig Hilfe hat beim Nachdenken darüber.
    – Sie hat ja getan, als hätte sie Angst vor mir, Marie.
    – Na klar hat sie Angst vor dir. Manchmal stellst du Fragen, Gesine … Fragen von einer Art, Gesine …!
    – Don’t trust anybody over thirty.
    – So meint es nicht Francine, sondern ich. Und wenn ich es meine, so meine ich es anders. Du wirst mich verstehen.

13. Dezember, 1967 Mittwoch
    Im fiskalischen Jahr 1966/67, bei weniger als einer halben Million Soldaten in Viet Nam, wurden 748 Personen wegen Wehrdienstverweigerung verurteilt; 1944, bei elfeinhalb Millionen unter Waffen, waren es 4609 Personen. Nun rechne dir das aus, und VERGISS NICHT DIE BEDÜRFTIGEN !
    Die Viet Cong massakrierten am vergangenen Dienstag 200 Angehörige der Bergstämme, und Senator Percy von Illinois kam da zu Besuch, und so fort, und GEDENKE DER BEDÜRFTIGEN !
    Auch hat die New York Times wieder einmal nachgesehen in Ostdeutschland und fand die Regierung noch unsicherer, mißtrauischer gegen die Bevölkerung; die Bevölkerung käme gern einmal nach draußen, hält die Regierung für die am wenigsten liberale unter allen sozialistischen Ländern und den Kommunismus für das überlegene Gesellschaftssystem, und VERGISS NICHT DIE BEDÜRFTIGEN !
    1935 hätten sie Cresspahl noch aus dem Land gelassen. Mit Gewalt hätten sie ihn nicht gehalten.
     
    – Aber er hatte ja nun sich gelegt fest mit seinem Geld, schätze ich: sagt Marie. Das ist ihr Deutsch.
    – Ja. Wenn du bedenkst, daß ein englisches Pfund damals 12 Mark und 30 Pfennige wert war. Da war wohl nicht viel übrig.
    – And he had found his way there: sagt Marie.
     
    Er hatte da einen Weg gefunden.
    Anfangs hatte die gneezer Innung ihn zwar nicht links liegen lassen, aber doch wo er war: weit weg, da oben an der Küste. Die gneezer Tischler brauchten die Arbeit selbst, die in ihrer Stadt anfiel. Dieser Cresspahl hatte es nicht nötig gehabt, nach Deutschland zurückzukommen. Sie waren mit ihren Mustern von Zimmereinrichtungen von Dorf zu Dorf gefahren und

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