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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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trinken, über Maschinen und Material und Arbeiter reden, den Nazis Schabernack spielen, leben eben. War das doch.
     
    Holl din Muul, Gesine. Holl din Muul.

14. Dezember, 1967 Donnerstag
    Liebe Anita Rotes Haar.
    Liebe Doktorin der Orientalischen Archäologie!
    Meine Guteste.
    Sagt der Alte noch so?
    lch bedanke dir deinen Brief und daß ihr den Paß von Henri R. Faure tatsächlich zum 15. November geschickt habt, und Shakespeare bedankt sich für die Briefmarken aus der Schweiz. Shakespeare heißt von Hause Mr. Shaks, und mit Vornamen wie du rätst Bill, ein unerschöpflich freundlicher schwarzer Herr aus Brooklyn, ein Künstler in der Klempnerei mit den Manieren eines Hoteldirektors. Und er hat sich seinem Namen gefügt und kann nicht nur den Hamlet halb auswendig, sondern auch Richard the Fourth. Sammelt unsere europäischen Postwertzeichen.
    Es war nicht übel, daß ihr euren »Henri R. Faure« einen Bedankmichbrief an Henri Faure habt schreiben lassen. Nun sind die alten Faures überzeugt, daß sie keinem Unfug aufgesessen sind. Und Henri hat seinen Paß um und um gewendet und fand keine Spuren und konnte nicht begreifen, daß so ein kleines Ding das Billet sein kann für den Austritt aus einem Lande, das solche Austritte aber nicht will.
    Und immer noch glauben die Faures, wir hätten das für die Judenheit getan und grüßen schon von ferne. Es sind recht alte Herrschaften, und er lüftet seinen Hut mit einem steifen, eleganten Schwung. Und jedes Mal bleiben sie stehen und führen ein Gespräch auf. Mein Französisch hat mittlerweile einen belgischen Einschlag.
    Und wiederum hat die D. D. R. einen jungen »Zionisten« verloren, der dann doch nicht nach Israel will, sondern nach Canada. Wenn ihr nur die Zeit hättet, jener Partei der Arbeiterklasse einen gewissen Teil der Welt zu erklären.
    Liebe Anita, es ist schade, daß ihr eure Wohnung verloren habt. Es tut mir leid.
    Ich mochte an ihr, daß sie so dicht unter dem Dach saß und allein war mit den Vögeln und Flugzeugen und Baumspitzen. Ich mochte an ihr, daß sie drei Ausgänge hatte, getreu der Vorschrift des Dichters, und drei Türen aus Stahl, die schlossen wie in einem Tresor. Dahinter war sicher leben. Ich mochte an der Wohnung, daß sie zwei Seiten hatte: die graue mit dem schrägen Fenster nach Norden, das alle Dächer unter sich hatte bis zu dem kaputten Zahn, den ihr Gedächtniskirche nennt, und nämlich in sicherer Entfernung von ihm. Ich mochte die andere Seite, die die Sonne auffing und noch im Winter nach trockenem Wind roch. Ich weiß noch, da hatte ein Fußboden einen Buckel. Ich mochte an der Wohnung, daß man über die Stadt einflog und sah euch auf dem Balkon. Das war eine Birke, die mit ihren obersten Ästen es geschafft hatte bis zu dem Balkon, oder? Ich mochte an der Wohnung alle Zeit, die ihr mich da habt leben lassen, und sogar Marie erinnert sich, wenn auch nur an die 125 Stufen bis zu eurem Licht und eurer Klingel. Ich habe da auch was verloren, und Berlin wird nicht sein, was es war.
    Ich verstehe, daß du nun nicht Zeit hast für Untersuchungen und Ausgrabungen in diesem Kontinent, und finde es betrüblich. Zu Weihnachten hätte ich Jemand brauchen können wie dich. Jemand der das Nachtgebet der Fische aufzusagen vermag, exempli gratia. Weihnachten kann ich nicht aushalten. Ich weiß nicht was da ist. Ich habe keine Todesfälle in dieser Zeit, und doch werde ich Träume von Todesfällen nicht los. Und Marie erwartet die Routine des Festes, and I have to go through all the motions. Hier wurde gestern erst nach dir gefragt: wie uns ein Dichter berichtet.
    Dies ist der Tag, an dem die New York Times endlich berichten kann, daß der junge Mann auf dem griechischen Thron die Sitzgelegenheit verspielt hat und außer Landes ging. Manchmal bin ich doch nicht sicher, daß du und ich einander über solche Vorfälle einig wären. Wir haben uns seit fünf Jahren nicht gesehen.
    Doch, ich bin sicher. Die anderen Meldungen sagen, zum Beispiel, daß die Control Data Corporation ihren Computer 1604 an die Warnow-Werft in Rostock geliefert und verkauft hat, »weil er für gewerbliche Zwecke benutzt werden wird«. Und das Pentagon hat eine »Busbombe« fast fertig, ein Weltraumfahrzeug, das an Haltestelle nach Haltestelle überall in der Welt eine thermonukleare Bombe abwerfen kann, nur damit die Sowjets etwas weniger Freude haben an ihrer Satellitenbombe F. O. B. S., fractional orbital bombing system, du erinnerst dich. Die

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