Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
zwischen dem schwarzen und dem europäischen Kind mit Erstaunen, aber auch erleichtert, denn jetzt kam es seltener vor, daß Edmondo Bauklötze warf mit der Absicht ein Auge zu treffen, und fast gar nicht mehr mußten sie ihn herausreißen aus einer Schlägerei, die für das ihm unterlegene Kind hätte mit einem Knochenbruch enden können. Denn Edmondo war ganze acht Jahre alt und in Maries Klasse nur wegen der vierjährigen Verspätung in der Entwicklung seines Gemüts, und Edmondo besuchte den Kindergarten mit dem Stipendium der Kirche selbst und galt als erstes Objekt eines Experiments, und vor einer Verweisung aus dem Haus schützte ihn dann noch seine Hautfarbe. Die Kirche hätte ihren guten Willen nicht gern ohne äußerste Not verdächtigt gesehen. Nun der schwierige Schwarze mit der kleinen Deutschen zusammen war, verliefen die Stunden fast wie in einer normalen Klasse, ohne zusätzliche Arbeit und Aufregung, und diese isolierte Partnerschaft, so wenig sie hinauslief auf togetherness, diese Freundschaft wurde nicht geschieden.
Marie ging auch Edmondo besuchen in Ost Harlem, und das Leben der Familie Barrios setzte sich zusammen aus den allerüblichsten Bestandteilen der gängigen Kenntnisse von diesem Ghetto. Edmondo hieß nicht nach seinem Vater, sondern nach dem Vater seines jüngeren Bruders, weil dieser den Mut zu einer Eheschließung mit Mrs. Barrios gehabt hatte. Er war dann doch gegangen, und der Vater Edmondos, ein Mensch mit dem Vornamen Rodrigo, hätte wohl bei Edmondos Mutter leben mögen, wäre sie nicht durch seine Anwesenheit der Fürsorge-Untersützung verlustig gegangen, und an eine Unterstützung der Familie durch ihn war nicht zu denken, da er nicht an Arbeit kam.
Wenn du’n Mopp hast statt Haare, krichste kein Job.
Er war gelegentlich zu Besuch gekommen, aber nicht mehr, seitdem Mrs. Barrios das zweite Mal von anderen Männern schwanger war. Mrs. Barrios erzählte das der Fremden bereitwillig, weil Edmondo so ausführlich von der Tochter der Fremden berichtet hatte. Sie war eine sehr hübsche, etwas füllige Person mit Lippen von der Art, die in diesem Lande kaukasische heißen. Sie trug ihre Haare kurz, wie ein Mann einen Bürstenschnitt, und im Profil, wenn sie den Kopf hochnahm, konnte sie lustig aussehen, geradezu mutwillig. Wie sie, war die Wohnung sauber wie Stück für Stück aus dem Ei gepellt. Die Wohnung bestand aus zweieinhalb Räumen hintereinander. Die hinteren Zimmer bekamen ihr Licht durch das eine Fenster des vorderen. Mrs. Barrios war stolz auf ihre Wohnung, die tatsächlich möbliert aussah, weil das eine große Bett für alle Kinder kaum noch Platz übrig ließ und ein Bildnis der Mutter Gottes, aus einer Zeitung geschnitten und mit einem pappenen Rahmen beklebt, noch eine stark abgeschürfte Wand zu etwas Anderem macht. Mrs. Barrios glaubte ihre Umstände noch glücklich. Das vorbereitete, erwartete Bild von einer Wohnung in Ost Harlem wurde dadurch vervollständigt, daß das einzige Fenster tatsächlich auf die Geleise der Eisenbahn New York Central ging, die hier den Anwohnern die Pendelzüge in die ländlichen Gebiete und eben auch den »Zwanzigstes Jahrhundert, platzkartenpflichtig« als Hochbahn vorführte.
Außer nachts, lebte Edmondo auf der Straße und unter dem Schirm der Eisenbahn, und diese Straße erklärte er Marie. Wenn er ihr einen Mann mit unsicherem Gang als einen »junkie«, einen Rauschgiftsüchtigen bezeichnetete, tat er das nicht sachlich, sondern mit auffälligem Haß. Da war etwas. Es war nicht gewöhnlich, daß ein Bewohner dieser Straße mit einer »weißen« Freundin ankam und dann auch noch ins Haus ging, und auf jener Treppe zu der Wohnung von Mrs. Barrios mag Marie zum ersten Mal etwas vom geschlechtlichen Verkehr der Menschen gehört haben. Das genierte Edmondo, und sein Stolz auf die »weiße« Freundin war verregnet. Mrs. Barrios konnte sich nicht rasch genug einstellen auf die Sitte des Mittelstands, die Kinder zu Besuchen zu schicken, und hatte überdies keinen Platz, von Spielzeug zu schweigen, und nahm von ihrem Fürsorgegeld und schickte die Kinder in das Kino Apollo an der 125. Straße. Es war Maries erster Spielfilm, eine sehr traurige Geschichte von einer Dame auf dem Sofa und einem Matrosen, »der geschießt hat«, und eigentlich geschah das ganze in einem Auto, oder in einem Flugzeug, das war Marie durcheinander gekommen, und verwirrte sich vollends in ihren Träumen. Das war Maries erster Besuch bei Edmondo, und sie wollte
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