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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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ihn oft in den Einzelheiten besprechen, aber sie bestand nicht auf einem zweiten.
    Es kam zu einem zweiten, aber sie zog vor, daß Edmondo in ihrer Wohnung war. Die Babysitter, die ihn zusammen mit Marie vom Kindergarten abholen mußten und dann fünf Stunden lang für ihn verantwortlich waren, kündigten ihre Dienste vorsorglich für den Fall, daß dies Kind ein zweites Mal zu Besuch kam. Es war zu sehen. Abends sah Maries Zimmer aus wie nach einer Haussuchung, die in verzweifelter Eile durchgeführt wurde, wie im Film, und da waren Scheiben in Maries Tür zerbrochen, und nur Marie war noch heil und fröhlich und ein wenig erstaunt. Eines der Mädchen berichtete, das Kind Edmondo könne Einen in eine »Sintflutstimmung« versetzen, so wenn er keiner Anregung und keinem Befehl mehr zugängig sei und sich auf den Boden lege und sich schwer mache und mit der beschränkten Lust eines Zweijährigen auf die Reaktion des Erwachsenen warte: dann sei man mitten in einer Flutwelle und könne sich an nichts Festes mehr halten. Edmondo hatte in Wirklichkeit nicht verstanden. Er hatte auf Schläge gewartet, für Schläge wäre er aufgestanden. Einmal sah ich ihn seiner Mutter nicht folgen, und Mrs. Barrios, ohne Rücksicht auf die weißen und mittelständigen Teilnehmer des Schulausflugs, griff blind nach irgend etwas, mit dem sich schlagen ließe und erwischte ein Springseil und versuchte es kaputtzuschlagen auf dem Jungen, der sich übrigens nicht wehrte. Die Gebildeten, die Liberalen, die Weißen sahen sehr nachdenklich zu, und besonders schien ihnen aufzufallen, daß Mrs. Barrios ohne Übergang aufhörte, als sei sie mit einer Arbeit fertig.
    Wir hätten Edmondo ausfragen können. Seine Verachtung für die Rauschgiftsüchtigen, das war etwas. Daß er unbedingt wissen wollte, ob Marie unter dem Rock aussah wie seine Schwester, es hätte helfen können bei seiner Heilung. D. E. war der erste, der den Jungen fünf Minuten lang ansah und dann für krank erklärte; und in der Gegenwart eines Erwachsenen, eines Weißen Mannes, hatte Edmondo sich sehr still und gebührlich gehalten. Er war schwer aufzufassen. Ein Junge, der all und jeden angriff, oft ohne Blick für das Verhältnis der Kräfte, wie kam der zu solcher Angst vor Hunden? da spielte ein Mensch im Riverside Park mit seinem Hund, einem zärtlichen Boxer, und der Hund war weit von uns entfernt, und seinem Bellen war nichts anzuhören als ungeheurer Spaß, und Edmondo versteckte sich hinter meinem Rock und bettelte flehentlich um eine Umkehr des Spaziergangs. Gibt es solche Hunde in Ost Harlem? Benutzt die Polizei solche Hunde? Wir haben ihn nicht gefragt. Wir haben ihn nur anderthalb Jahre gekannt. Dann ist irgend etwas passiert in einem Sommerlager für alleinstehende Mütter mit allen ihren Kindern. Edmondo trug die mit dem Zeichen dieses Lagers bedruckten Pullover jeden Tag, wie Hemden. Er soll etwas mit einem Messer getan haben. Er war da neuneinhalb, und kräftig. Die Psychiater überwiesen ihn in eine Sonderschule. Die Schule war eher eine Klinik. Offenbar hatte er sich vom Leben eine Krankheit zugezogen, die den Ärzten noch nicht oft untergekommen war. Mrs. Barrios mußte keinen Cent für seine Unterbringung und für die Heilversuche bezahlen. Damals konnte man ihn noch besuchen. Er wußte nicht mehr, wer Marie war. Marie tut, als sei dieser Besuch nie gewesen. Dann konnte man ihn nicht mehr besuchen.
    Marie sagt noch heute: Mich hat er nie geschlagen. Und er war so stark, er mußte dich nur anfassen, und du warst die Treppe hinuntergefallen. Mit mir hat er das nie gemacht.
    Gesegnet sei das Vergessen. Nur, sie hat es nicht vergessen.
    Das Wetter regnet sich so durch. Es ist eben kurz vor Weihnachten.

12. Dezember, 1967 Dienstag
    » DAS STRAHLEN DER WEIHNACHTSZEIT ERLEUCHTET DIE STADT
    …
    In Manhattan werden glückliche Schwärme von Kindern und Erwachsenen angezogen von dem abermals beleuchteten Weihnachtsbaum im Rockefeller Center und von den sensationellen Dekorationen in den Schaufenstern, die die schicken Straßen von Stadtmitte säumen.
    Die Fenster von Lord & Taylor bieten eine belebte Phantasmagorie aus Szenen von Weihnachten in Wien: kleine Figuren tanzen im Schloß Schönbrunn, ein Dirigent und eine Diva zeigen eine Aufführung in der Wiener Oper vor einem Jahrhundert, die Türen des Stephansdoms öffnen und schließen sich, Kinder tollen in einem Alpendorf umher und Glöckner läuten.
    Die Fenster von B. Altman sind ein Füllhorn großer Kunst aus

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