Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
jenes Amerikaners, der am vorigen Mittwochabend in Prag nicht in sein Hotel zurückkam, ist gestern nachmittag in der Vltava gefunden worden. Mr. Jordan, 59 Jahre, war Mitarbeiter des jüdischen Hilfswerks JOINT . Er hatte sich eine Zeitung kaufen wollen.
Die Sohle der Lexington Avenue ist noch verschattet. Sie erinnert sich an die Taxis, die einander am Morgen auf dem Damm drängen, im Einbiegen aufgehalten von einem Verkehrslicht, dessen Rot die Fußgänger zum Gang über die östliche Einbahnstraße ausnutzen können, in dessen Grün sie die wartenden Wagen behindern dürfen. Sie hat nicht gezögert, auf die Verbotsschrift zuzutreten. Sie kommt hier seit vordenklicher Zeit, mit angelegten Ellenbogen, auf den Takt der Nachbarn bedacht. Sie weicht dem blinden Bettler aus, der mit vorgehaltenem Becher klimpert, der unwillig grunzt. Sie hat ihn wieder nicht verstanden. Sie geht noch zu langsam, ihr Blick wandert, sie ist mit der Rückkehr beschäftigt. Seit sie aus der Stadt war, hat zwischen den hohen Fenstertürmen das Sirenengejaul gehangen, das schwillt, verkümmert, hinter ferneren Blocks wild aufbricht. Aus den Seitenstraßen schlägt hitziges Gegenlicht quer. Mit den Augen gegen den blendenden Zement geht sie neben einer Fußfassade aus schwarzem Marmor, deren Spiegel die Farben der Gesichter, Blechlacke, Baldachine, Hemden, Schaufenster, Kleider schwächer tönt. Sie tritt beiseite in einen weißlichtigen Gang, aus dem Ammoniak ins Offene dampft, Biß für Biß abgetrennt von der federnden schmalen Tür. Diesen Eingang kennen nur die Angestellten.
Sie ist jetzt vierunddreißig Jahre. Ihr Kind ist fast zehn Jahre alt. Sie lebt seit sechs Jahren in New York. In dieser Bank arbeitet sie seit 1964.
Ich stelle mir vor: Unter ihren Augen die winzigen Kerben waren heller als die gebräunte Gesichtshaut. Ihre fast schwarzen Haare, rundum kurz geschnitten, sind bleicher geworden. Sie sah verschlafen aus, sie hat seit langem mit Niemandem groß gesprochen. Sie nahm die Sonnenbrille erst ab hinter dem aufblitzenden Türflügel. Sie trägt die Sonnenbrille nie in die Haare geschoben.
Sie hatte kaum Spaß an der Wut der Autofahrer, die auf der Lexington Avenue von einer Ampel Tag für Tag benachteiligt werden. Sie kam hier an mit einem Auto, einem schwedischen Tourenwagen, der zwei Jahre lang am Schneesalz verrottete, am Fuß der 96. Straße, gegenüber den drei Garagen. Zur Arbeit ist sie immer mit der Ubahn gefahren.
Ich stelle mir vor: In der Mittagspause liest sie noch einmal, daß gestern nachmittag ein Mann in einem Kahn auf der Moldau in Prag spazierenfuhr, bis er zur Brücke des Ersten Mai kam. An einem Wasserbrecher hing ein Jude aus New York, der aus seinem Hotel gegangen war, um eine Zeitung zu kaufen. (Sie hat gehört, daß englischsprachige Zeitungen in Prag nur in Hotels verkauft werden.)
Bis vor fünf Jahren kannte sie von Prag nur die Straßen bei Nacht, durch die ein Taxi vom Hauptbahnhof zum Bahnhof Střed fährt.
You American? Hlavní nádraží dříve, this station, earlier, Wilsonovo nádraží. Sta-shun. Woodrow Wilson!
Sie hätte ja sagen müssen, weil sie einen amerikanischen Paß in der Tasche hatte. Den Namen in dem Paß hat sie vergessen. Das war 1962.
Ich stelle mir vor: Sie kommt am Abend, bei schon abgedecktem Himmel, aus der Ubahnstation 96. Straße auf den Broadway und sieht im Brückenausschnitt unter dem Riverside Drive eine grüne Lichtung, hinter dem fransigen Parklaub den ebenen Fluß, dessen verdecktes Ufer ihn auslaufen läßt in einen Binnensee in einem Augustwald in trockener verbrannter Stille.
Sie wohnt am Riverside Drive in drei Zimmern, unterhalb der Baumspitzen. Das Innenlicht ist grün gestochen. Im Norden sieht sie neben dichten Blattwolken die Laternen auf der Brücke, dahinter die Lichter auf der Schnellstraße. Die Dämmerung schärft die Lichter. Das Motorengeräusch läuft ineinander in der Entfernung und schlägt in ebenmäßigen Wellen ins Fenster, Meeresbrandung vergleichbar. Von Jerichow zum Strand war es eine Stunde zu gehen, am Bruch entlang und dann zwischen den Feldern.
22. August, 1967 Dienstag
Über Festland-China sind gestern zwei Düsenjäger der U. S. Marine abgeschossen worden. Das Kriegsministerium erklärt 32 Mann für amtlich tot in Viet Nam. Das Marinekorps hat 109 tote Vietnamesen aus dem Norden gezählt. Die Bande im Süden verspricht ganz ehrliche Wahlen.
Gestern in New Haven sind abermals Schaufenster eingeschlagen und Brände
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