Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
und sie zu einem Abendessen in Short’s Greyhound in der George Street von Richmond einlud. Oder war ihr die Anzeige aufgefallen? Das ganze Frühjahr 1928 über erschien Albert Gosling, einen neuen Bowlerhut auf dem Kopf, in der Werkstatt und versuchte Cresspahl auf die Finger zu sehen. Da er aber nicht wußte, was eine Zwinge war und was ein Raspel, sprach er von seiner kindhaften Verehrung für Reggie Pascal, dem er gleichwohl nichts auf die Knochen im Friedhof Sheen gelegt hatte, und bat sich Abschlagszahlungen aus. Seine weinerlichen Verdächtigungen machten Cresspahl die Arbeiter scheu, und er bedang sich aus, daß die Abrechnung über die Anwälte ging. Burse, Dunaway und Salomon alle zusammen beschworen Gosling, die Werkstatt in Ruhe zu lassen; Dunaway, in seinem Jähzorn, schob einmal die Akte so über die Tischkante, daß sie fast gefallen wäre. Gosling legte seine Gewinne in neuen Maßanzügen an und stand mit einem neuerdings frisierten Bärtchen öfter mit jungen Herren umher am Bahnhof Paddington als im Laden bei seiner Frau in Uxbridge; wenn er nach Richmond kam, so um in bürgerlichen Trinkstuben über die Deutschen herzuziehen, gegen die er sein Leben eingesetzt habe. Davon erzählten Cresspahl nicht nur Kellner, auch Perceval, damals Lehrling. (Perceval hätte den Meister gern einmal zuschlagen sehen.) Mr. Smith setzte hinzu, daß Gosling während des Kriegs im Marineversorgungsamt in Dartmouth Mützen gezählt habe. Salomon, dem als jüngerem Partner von Burse und Dunaway die Akte Pascal allein aufgenötigt war, hatte Gefallen gefunden an dem hartnäckigen Handwerker aus »Michelinberg«, der nicht auf Gesprächen über die Wirtschaftskrise oder die Juden bestand, und er hätte ihm gern zu einer Rückgabe des Auftrags geraten, wäre nicht seine Treue gegen den Mandanten, angesichts Cresspahls hübscher Erträge, doch kräftiger geblieben. Cresspahl kannte Angehörige des jüdischen Glaubens nicht nur als Händler auf den Dörfern um Malchow, sondern auch als Unteroffiziere an der Westfront, und er konnte sich ohne Schmerzen gewöhnen an Arthur Salomon, der so schamlos stolz war auf seinen Oberschulakzent, sein konservatives Schwarz, sein rothölzern eingerichtetes Büro, die juristischen Schwarten hinter seinem kleinen, wachsamen, verbitterten Kopf. Cresspahl beauftragte ihn, ein Kaufangebot für Pascals Grundstück vorzutäuschen, jedoch zu einem niedrigeren Preis. Dann ließ er sich von ihm einen Abfindungsvertrag für Mrs. Elizabeth Trowbridge entwerfen.
Es mag drei Wochen gedauert haben, daß er den Anblick eines etwas kleinstädtischen Mädchens, winkend auf den Landungsbrücken von Sankt Pauli, im Gedächtnis fest behielt, die ganze Fahrt von Hamburg nach Kingston-on-Hull bis zum Bahnhof von King’s Cross, einen vollen Tag und zehn Stunden, und dann noch zwanzig Tage bei der Arbeit, noch bei dem letzten Abendessen mit Elizabeth Trowbridge. Dann schickte Lisbeth Papenbrock ihm ein Werk des gneezer Lichtbildners Horst Stellmann, Portraits seine Spezialität: ein nicht auffälliges Mädchen, das seine Haare mit einem Mittelscheitel geteilt hat und seitlich über die Ohren gelegt hat, Lisbeth Papenbrock mit den Händen vor dem Bauch aufgebaut vor Stellmanns eigenartig gerafften Vorhängen. Sie blickt vorsichtig und belustigt auf die Plattenkamera, an der Stellmann sich windet unter seinem schwarzen Tuch, und ihre Lippen waren ein wenig offen. Alle früheren Bilder vergaß Cresspahl sogleich.
Betn scheef
hett de leeve Gott leev.
18. September, 1967 Montag
Wo wir wohnen ist der Broadway alt. Wir sind weit von seinem legendären Stück oberhalb des Times Square, wo der rasche Umsatz den verwitterten Turm der New York Times mit Sandstrahlgebläsen weiß poliert hat, wo alte Häuser klammheimlich niedergemacht werden hinter mattenbehängten Gerüsten, wo die soliden Türgriffe und Schlösser und Treppengeländer des Astor Hotels versteigert werden, damit Platz wird für Glas und Kunststoff und eloxiertes Aluminium, wo die Straße ausgehängt ist mit ungeheuren Tüchern aus Licht, flackernd unter Kinobaldachinen, den unreinen Farben des Neongases, laufenden Schriftbändern, unter Punktstrahlern, unter Scheinwerfern und den kreisenden, springenden, platzenden Leuchtreklamen. Bei uns, auf der Oberen Westseite von Manhattan, sind die Lichter geringer, und hängen tiefer.
Unser Broadway beginnt an der 72. Straße, wo er auf die Amsterdam Avenue trifft und ihr den Verdipark abschneidet. Hier teilt
Weitere Kostenlose Bücher