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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Südspitze von Manhattan und Staten Island sah sie zum ersten Mal vom Touristendeck der »France« aus, da mußte sie noch über die Reeling gehoben werden. Sie starrte feindselig auf den Hochhauskaktus Manhattans, der zu Riesenmaßen wuchs, statt zu menschlichen abzunehmen; mit Neugier betrachtete sie die Fährboote, die neben dem Überseeschiff das new yorker Hafenbecken ausmaßen, mehrstöckige Häuser von blau abgesetztem Orange, rasch laufend wie die Feuerwehr. Sie nickte benommen, als Gesine ihr die Fahrzeuge nicht erklären konnte; bei einem Ausflug erkannte sie den Typ auf den zweiten Blick, obwohl die Fährportale ihr das Äußere mit Scheuklappen zugehängt hatten.
    Die South Ferry war ihr erster Wunsch an New York, dringend genug, wieder und wieder seine Wirklichkeit ohne Nörgelei abzuwarten: die Fahrt mit dem Brooklyn-Expreß bis zur Chambers Street, die Bummelei auf der Lokalstrecke bis zur kreischenden Schleife der Ubahn um die Station South Ferry, der Aufstieg aus dem Untergrund in den weiträumigen Wartesaal, alles ohne Eifer und Eile. Wenn aber die großen Türen hinter die Wände gerollt wurden, begann sie an Gesines Hand zu ziehen über die Gänge und Brücken zum Schiff, als hätte sie da in all dem Platz für dreitausend Leute einen einzigen und eigenen zu verfehlen. Damals beschrieb sie New York in Zeichnungen für düsseldorfer Freunde als einen bloßen Hafen für orange vielfenstrige Schwimmhöhlen, in denen neben reichlich Autos ein Kindergarten versammelt war. Damals ließ sie sich noch fragen, warum sie Gesines arbeitsfreie Zeit aufgab für Ausfahrten mit der South Ferry: weil es ein Haus ist, das fährt; weil es eine Straße zwischen den Inseln ist, die sich selbst übersetzt; weil es ein Restaurant ist, in dem man reisen kann, ohne sich einen Abschied einzuhandeln.
    Und an den Drehkreuzen der South Ferry durfte sie zum ersten Mal in der Stadt selbst eine Fahrt bezahlen; hier war sie unter die Bürger aufgenommen worden.
    Inzwischen regelmäßig beginnt sie die Benutzung des Schiffes auf dem Fahrzeugdeck und überwacht die Fährleute beim Lösen der Kabel und dem Aufziehen der Scherengitter, bis die Männer die Handschuhe ausziehen und durch den Fahrzeugtunnel zum andern Bug schlendern. In den Rauchsalons unten und auf dem Hauptdeck sucht sie nach dem Schuhputzer, auf den sie ihre Sonntagsschuhe abonniert hat und mit dem sie ein durchlaufendes, mißtrauisches Gespräch unterhält über seine Konzession und sein Leben auf der Fähre. Sie findet auch am Imbiß-Stand, bei den Touristen auf dem Vordeck, unter den Familienausflüglern und Rentnern und Kindern zwischen den verschrammten braunen Bankreihen genug Leute, die sie beobachten muß mit Blicken so vorsichtig und höflich, daß sie sich vor Anreden wie zufällig verziehen kann. Sie verzieht sich den Gang hinunter, ein in Blicke verlorenes, ein schlaksiges Kind, das zu seinen Zöpfen eine verwaschene Windjacke trägt und zu seinen abgestoßenen weißen Hosen hochglänzende braune Besuchsschuhe. Sie erzählt nicht was sie gefunden hat an dem Negermädchen, so alt wie sie, das ein zweijähriges Kind auf der Hüfte mitschleppte, eine Hand mit dem Eiszapfen neckend vor dem ruckenden zuckenden Babymund; sie erzählt nichts von dem alten Mann mit dem Kreuzworträtsel, der sie nach dem französischen Wort für Flur fragte (sie hat es ihm gesagt). Erst wenn sie sich nicht mehr beobachtet fühlt, wendet sie den Kopf seitwärts und tut ein paar beiläufige Schritte hinter dem Kind her, das Mutter spielt. Vor Polizisten tritt sie weg wie vor jeder amtlichen Uniform, seit sie 1965 Filmaufnahmen von amerikanischen Soldaten in der Dominikanischen Republik gesehen hat; Polizisten sind die einzigen, denen sie nur ein schiefes, unsicheres Lächeln zurückgeben kann. Um jene Bank, auf der ihre Mutter die Zeitungsseiten wendet, streicht sie nur gelegentlich, in rücksichtvollem Abstand. Sie weist mit fremdem Nicken darauf hin, daß sie nicht stört. In den fünfundvierzig Minuten der Fahrt nach Staten Island und zurück nach Manhattan hat sie die neunzig Meter von Bug zu Bug mehrere Male unter ihren Sohlen gehabt.
    Einem schwarzen Moslem, vor dem obersten Staatsgericht New Yorks unter Anklage wegen Polizistenmords, wurde der Mund mit einem Handtuch gestopft, als seine Proteste gegen die Verhandlung die Verhandlung störten. Zwei von den streikenden Lehrern hat das Wehramt unverhofft für einberufbar erklärt. Einem gemeinen Soldaten in Kalifornien drohen

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