Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
erlebt: Steve Kelly.
Auf einem anderen Bild ist zu sehen, wie eine alte Frau bei Danang, Stangenbeine, alterssteif, verzerrten Gesichts, von einem Soldaten auf dem Rücken aus einer Gefahrenzone auf höheres Gelände getragen wird. »Ein Angehöriger der Streitkräfte hilft ihr«: sagt die New York Times.
19. September, 1967 Dienstag
Für dein Kind, Gesine Cresspahl, mußte es gleich ein privater Kindergarten sein, und es machte dir nichts aus, daß er veranstaltet wurde in einer Kirche, die Gott von einem Rockefeller zum Andenken an seine Mutter gestiftet war, in geräumigen, sauberen Klassenzimmern hoch über dem Riverside Park und dem Hudson, mit Erzieherinnen, denen es nicht an Lohn fehlte zur Geduld mit den Kindern des Mittelstands, Mrs. Jeuken, Mrs. Davidoff, die Marie glauben machten an eine Welt, in der Freundlichkeit und Mangel an Neid und Gehorsam sich auszahlen, dafür legtest du dich krumm mit anderthalb Monatsgehältern, und deine Entschuldigung war »sie soll es bequem haben beim Lernen der fremden Sprache«. Sollte dein Kind nicht Ansprüche lernen?
Die Briten haben den Sowjets ihren entlaufenen Physiker zurückgegeben. Jetzt sind beide Seiten noch darin einig, daß er ein kranker Mensch ist, und beide Mächte halten einander Mangel an Benehmen vor.
Dein Kind, Gesine Cresspahl, kam aber mit sechs Jahren immer noch nicht in eine städtische Schule, in einen der schäbigen Ziegelkästen, die stinken nach fiskalischem Geiz, in überfüllte Klassen, in denen die Kinder der Armen die Streite ihrer Eltern ausschlafen, in denen unterbezahlte Lehrer mehr auf die eigene Verteidigung bedacht sein müssen als auf den Unterricht, in eine Welt, in der Hieb gilt und Stich und Schlag. Gefielen dir nicht die zerbrochenen Bänke, die stinkenden Toiletten, die öden Zementhöfe hinter deftigem Maschendraht? Oder sollte das Kind nicht Lernen entbehren vor Streiks wie diesem seit sechs Tagen, der heute vier Fünftel der Lehrer von New York von den Schulen fernhält, in dem es nicht nur um ihre Gehälter geht sondern um neue Schulen, kleinere Klassen, disziplinarische Rechte gegen aufsässige Kinder? Sollte in einer Schule für Marie nicht die Polizei erscheinen und Abgesandte der farbigen Bevölkerung aus dem Gebäude prügeln? Gibt es für dich Kenntnisse, vor denen du dein Kind bewahren willst?
»Als Polizist Clarke mit verbundenem Kopf vom Flur heruntergeführt wurde, riefen einige der weiblichen Demonstranten: ›Hoffentlich wirst du sterben!‹«
Gut genug für dein Kind, Mrs. Cresspahl, war dann doch nur eine Privatschule auf den nördlichen Höhen am Riverside Drive, und eine katholische dazu, ein Betonblock von bestem Schnitt und teurer Arbeit, aufgeführt in den Annalen moderner Architektur, eine Institution mit zweijähriger Warteliste und Preisen bis zu drei von deinen Gehältern. Da störte dich nicht der diskrete Bus, der die Kinder an den Slums vorbei entführt zu der unvermischten Wissenschaft; du warst nicht geniert von der Uniform der Schule, der blauen Jacke mit dem goldenen Wappen auf dem Herzen. Dein Kind soll schon jetzt behandelt werden wie eine einzelne und unabhängige Person, seine Fähigkeiten sollen so früh als möglich erkannt und ausgebildet werden; warum aber von Leuten, die lange braune Kutten tragen, einen weißen Strick um den Bauch und milde Beschränkung unter der Haube? Es ist wahr, mit einem Zeugnis dieser Anstalt wird das Kind zugelassen bei den ausgenommenen Universitäten, anders als Abgänger von der Public School Nummer 75, und sie wird Freunde haben in den reichen Familien, zu denen sie nicht gehört. Wozu der Schwindel, wenn zwei versäumte Gebühren genügen, und er fliegt auf?
Die Ostdeutschen sagen den Westdeutschen (nach dem Korrespondenten der New York Times): Gebt euren Militarismus auf, und euren Neofaschismus, und die Macht eurer Monopole; dann werden wir mit euch verhandeln.
Und dein Kind, Mrs. Cresspahl, geht zu den ärztlichen Untersuchungen nicht in eine städtische Klinik, muß nicht warten auf den verwanzten vergammelten Korridoren neben Blutenden, Bewußtlosen, Schwachsinnigen; dein Kind fährt zu einer Praxis an der Park Avenue, angemeldet wie eine Dame, begrüßt wie eine Freundin, ein Besuch fünfzehn Dollar, eine Blutzählung vierzig Dollar. Dein Kind kennt seinen Arzt bei Namen, schreibt ihm Briefe, wagt mit ihm zu telefonieren. Der Arzt deines Kindes hat seine extravaganten Zensuren nicht erworben an einer staatlichen Universität sondern an
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