Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
ein geräumiger Mittelstreifen, an den Kreuzungen mit Querbänken und gelegentlich mit Gebüsch besetzt, ihn in zwei breite Fahrbahnen. Zu beiden Seiten der Straße sind Muster der Renaissance in elefantischen Baumassen aufgetürmt, und weit in den Norden hinein zeugen die vielfenstrigen Kästen unter ihren gefühlvollen Gesimsen von dem fiebrigen Vertrauen in den Baumarkt, der um 1900 zu galoppieren anfing, als die Ubahn unter den Broadway gelegt wurde. Es sind Hotels, Lichtspieltheater, Appartementhäuser einer Zeit, in der Gewinne angelegt wurden, als Jugendstil oder italienisches Gerank um Knie und Stirn der Häuser noch ihren Wert anzeigen sollte. Der Auftrieb hat nicht gereicht für eine geschlossene Kolonne dieser dekorierten Ungetüme, zwischen ihnen hocken ärmlich und vierstöckig die zaghafter kalkulierten Miethäuser, die sich weniger Mühe machten mit dem Verbergen ihrer Feuerleitern, nun stellt ihr Alter sie bloß. Wenige Hotels haben die vermögende Kundschaft halten und die Reputation wahren können, die die Fassade verspricht; vornehmlich beherbergen sie jetzt Dauergäste, verarmte Pensionäre, kaum Leute mit Kindern. Die Appartementhäuser müssen ihre Wohnungen nicht lange ausbieten, zwar hilft ihre Adresse nicht dem Ansehen, aber sie sind versorgt mit Ubahnstationen, Buslinien in alle vier Richtungen, und ihre unteren Geschosse sind in dichter, nicht gebrochener Kette vollgestopft mit Geschäften, mit Feinkostläden und Superhandlungen, mit Waschsalons, Friseurstuben, Imbißhallen, Gemüsemärkten, Bars, Ladenkirchen, Schuhbesohlanstalten, Reinigungsfilialen, Steuerberaterfirmen und Fahrschulen und Reisebüros, wenngleich die Auslagen mitunter verstaubt sind, die Textilien Ramsch und die Theken nicht so blitzblank wie auf der Ostseite. Aber seit vierzig Jahren ist an dieser Straße nichts Neues gebaut worden, und trotz des Lichtergewimmels am Fuß der Fassaden erinnert der Broadway an Ansichten aus jener Zeit, als hier noch Pferde vor den Wagen liefen und die Anwohner vom »Boulevard« sprachen.
Und alte Leute verhalten sich still auf den Inseln der Überwege im Broadway, treten behutsam voran in den rasch überschnittenen Gängen der Passanten, stehen am Rande eines Gedränges um einen Hausierer, vertrinken Stunden an einer Tasse Kaffee in Cafeterias, aufgegebene Leute. Ihnen ist nicht gelungen, Besitz aus Europa vor den Nazis zu retten, sie sind nicht hoch abgefunden worden, sie können nicht bürgerliche Vergangenheit verlängern in den polierten Wohnungen am Riverside Drive, sie leben für sich. Aufgegeben von ihren Kindern, übriggeblieben aus langen Ehen, allein leben sie die letzten warmen Tage ab auf dem Broadway, doch in der Nähe von Bewegung, Verkehr, Umsatz, bis sie zurückmüssen in ihre möblierten Zimmer, in die Altersheime an der West End Avenue. Das sind nicht alte Herren, die von einem geplanten Spaziergang ausruhen, nicht alte Damen, die den Genuß beliebigen Einkaufs auskosten auf der Bank im Broadway, sie sind Mündel der staatlichen Fürsorge, und wenig mehr als ihre saubere Kleidung und angestrengte Haltung trennt sie von dem verlumpten Mann schwarzer Hautfarbe, der hinter ihnen auf den dröhnenden Ubahngittern einen gefährlichen Schnaps ausschwitzt. Und ihre redebereite Nachbarschaft ist widerwillig. Das Novoje Slovo reicht nicht aus, aus dem zwei gemeinsam den Zustand der Welt lesen, es ist nicht genug für Solidarität, daß ihre Mütter benachbart waren in ruthenischen Dörfern, und was für Intimität soll zusammenkommen aus gegenseitigen Erzählungen von den Ehesachen und dem Berufsleben ihrer Kinder, wenn die Kinder nicht kommen, nicht zu Besuch und nicht in die billigen Imbißhallen, wo das Wasser umsonst ist, auch Zucker und Sahne gelegentlich. Und es hat nicht einmal gestimmt daß sie mit zwanzig Cent und jahrelanger Treue den Treffpunkt erworben haben von der Gesellschaft, denn wenn ihrer Cafeteria die Pacht ausläuft, ziehen die Unternehmer weiter, auf der Suche nach Kundschaft mit weniger Zeit, mehr Barmitteln. Es bleiben die Bänke.
Die New York Times war dabei, als gestern abend das Automatenrestaurant an der 72. Straße, dicht am Broadway, geschlossen wurde, und nahm für uns wahr:
– Should auld accqaintance be forgot … (schwache, unsichere Stimmen).
– Fünfzehn Jahre lang bin ich hierher gegangen, jeden Abend: Ida Bess.
– Fünfzehn Jahre? Ich esse hier seit dreißig Jahren: Rose Katz.
– Wirklich schade. So treue Kunden hab ich noch nie
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