Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
zu ihm zog; nun wird er auch nicht ihre Schulden bezahlen, und zwar ab heute.
Dieser Sommer ist vorüber. In diesem Sommer ist der milliardenfache Revolutionsgewinner Tschombe nach Algerien entführt worden, und seine ehemaligen Freunde schärfen das Fallbeil. In diesem Sommer begann der 33. militärische Konflikt seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, die oberen Bürozellen der Bank waren überbevölkert von den Transistorsprechern, die aus Israel berichteten, die seit Errichtung des Hauses nie geschlossenen Zimmertüren waren angelehnt, und Mr. Shuldiner sprach ein ganzes Mittagessen über den jüdischen Imperialismus; auf dem Broadway die schmächtigen Herren mit ihren runden Bärten, ihren Schläfenlocken, ihren trüben Blicken zuckten zusammen, wenn ihre Nachbarn ihnen Anerkennung auf die Schultern schlugen, und fanden sich mühsam in das realpolitische Gespräch auf dem Bürgersteig, einer auf dem Reißaus in die Ubahn 86. Straße rannte gegen Mrs. Cresspahl, die der Diskussion aus fünf Schritt Abstand zugehört hatte, - ich bin kein Held, ich bin Theologe: sagte er. Bei der Siegesparade auf dem Riverside Drive ging Marie neben Rebecca Ferwalter am Rande einer Reihe, als gehörte sie hinein, nicht im blauweißen Aufzug, aber winkend mit einem Fähnchen, dem Davidsstern. Kossygin fuhr in schwarzem Trauerauto die Dritte Avenue nordwärts, und die Zuschauer in den modernen maschinentemperierten Bürotürmen konnten die Fenster nicht öffnen, ihm zu winken. Dann reiste er doch die Niagara-Fälle besichtigen. Noch einmal war Nikita Sergejewitsch Chruschtschow auf dem Fernsehschirm zu sehen, ein alter, erschöpfter Mann, der von abgetanen Taten schwätzt. An der Wand zwischen unseren Fenstern hängt die Aufnahme einer kalifornischen Hausfrau, die durch ein Telegramm erfuhr von dem Tod ihres Sohnes in Viet Nam; für die Fotografen setzt sie sich noch einmal und spielt vor wie sie es liest. In sechs Monaten sind die privaten Verbrechen um 17 Prozent angestiegen. Bei täglich zwei Morden in New York, wann muß einer Mrs. Cresspahl treffen? in welcher Nacht wird die Scheibe splittern, ein Schatten unter der Straßenbrücke mit einem Messer aufwachen, ein Arm um ihren Hals sie von der Straße in einen Kellergang ziehen? Dreifinger-Brown, ein Familienoberhaupt der Mafia, ist in seinem Bett gestorben, und die Polizei fotografierte die Trauergäste am Grabe. In 22 Städten sind die Neger aufgestanden, vorläufig sind 86 ihrer Toten gezählt, und die Polizei in New York zählt mittlerweile 32 365 Mann. Wir saßen auf der Hudsonpromenade, inmitten von Anglern, Familienausflügen, Tennisspiel, und sahen über den dreckdick sich wälzenden Fluß gegen das abendliche erstickte Rotlicht und horchten auf den Bürgerkrieg in New Jersey, der in den Bahnen, den Straßen unter dem Fluß freien Weg hatte nach Manhattan. Spät in einer Nacht kam ein Anruf aus Westberlin, von der Anita mit der Kneipe, und sie hatte fragen wollen: Lebste noch, Gesine? Wenn wir nur wüßten, ob John Kennedy umgebracht wurde von einem Irren oder auf Bestellung. Die Luftwaffe verliert Kleinstminen am Strand von Florida und weiß nicht wie. Eisenbahnen, Telefongesellschaften, Autofabriken, Schulen wurden bestreikt. Es geht uns nicht an, wir sind hier Gäste, wir sind nicht schuldig. Wir sind noch nicht schuldig. In Viet Nam fallen mehr Amerikaner als Südstaatsoldaten, und General Westmoreland hat mehr davon bestellt. Die Gesetzgeber lachen sich krumm über ein Gesetz gegen die Rattenplage in den Slums. De Gaulle verspricht Quebec die Freiheit. Immer wieder fotografieren die Großmächte die Rückseite des Mondes. Krupp ist gestorben, und Ilse Koch hat sich umgebracht. Einer der Erfinder der Gaskammer, ein deutscher fetter Mittfünfziger, war beim Betreten des Anklagepodiums in Stuttgart zu sehen. Dieser Sommer ist vorüber, das ist unsere zukünftige Vergangenheit, das sind unsere Lebenserwartungen. Aber noch unter dem Broadway, auf dem Bahnhof 86. Straße, auf dessen Mittelgleisen ein Expreß donnernd nach Norden durchfährt, sehen wir auf die erstarrten, blicklosen Leute in den ruckenden Fenstern des Zuges und ängstigen uns davor, einmal nicht mehr zu ihnen zu gehören, vor einer Zukunft, da wir nur noch mit dem Heimweh leben könnten in New York.
16. September, 1967 Sonnabend
Sonnabend ist der Tag der South Ferry. Der Tag der South Ferry gilt als wahrgenommen, wenn Marie mittags die Abfahrt zur Battery ankündigt.
Die Fähren zwischen der
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