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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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mir durch einen Zufall von der Hand gegangen, und für ein anderes Motiv würde ich das Vertrauen von Oma Faure nicht riskieren. Dies sehe ich ein. Möchte es nun in der Tat so sein, daß euer Neunzehnjähriger die antiisraelische Propaganda der D. D. R. nach dem Junikrieg nicht aushielt und sich verquatschte, daß er aus der Fachschule flog und nun der Sicherheitsdienst ihn auf dem Kieker hat. So jemand muß raus, und sei es, damit er sich wundert. Möchte es nicht etwas sein mit Liebe.
    Dafür würde ich heute nichts mehr tun. Denn damals, gleich nach dem Bau der Mauer quer durch Berlin, Anita! Gib es zu,wir waren verblödet durch Mitleid. Wenn deine Hilfsbedürftigen ankamen mit den Darstellungen ihrer Liebe zu einer Person im abgeschnittenen Land, du bist ihnen doch oft mit einer Zusage über den Mund gefahren, damit du dies Seelengerassel nicht mehr anhören mußtest. Wir alle hätten genauer hinhören sollen. Welche waren doch schlicht beleidigt, daß die D. D. R. ihnen den Tort tat, ihnen ein Liebesobjekt zu entziehen. Welche wollten die Verlobte oder Geliebte doch auch holen, um ihnen zu beweisen, daß sie auch in diesem Fach potent waren. Erinnerst du dich an den Lyriker aus München, der dir die Schürze vollgeheult hat? zwei Monate, nachdem das bestellte Mädchen ihm übergeben war, schmiß er es weg. Erinnerst du dich an Dietbert B., den Fotografen, den Weltmann? Hörte man sie reden, so ging ihnen die Entfernung von der geliebten Person ans Leben, waren sie einander unentbehrlich um jeden Preis, und tatsächlich reichte es ihnen nicht einmal zu einem beliebigen Ort, da zusammen zu leben. Dann war die absolute, bedingungsfreie Liebe doch nur möglich in der kapitalistischen Konjunktur. Schiet, Mensch!
    Was ich sagen will ist: hoffentlich arbeitet ihr nicht mehr im Stil von Henriette zu den Selbstkosten, wenn ihr schon von der Sparte nicht loskommt. Ich wünschte dir nicht gleich einen Umstieg ins Professionelle, aber die Butter aufs Brot solltet ihr mindestens verdienen an dieser Überführung aus dem Lande Ägypten.
    Teil II .
    Nein. Kein Heimweh nach Deutschland. Schon gar nicht bei Marie. Die ist schon geniert, wenn es doch herauskommt, daß sie in Düsseldorf geboren ist, und nicht in New York. Und das Haus in Düsseldorf, meine erste eigene und wirkliche Wohnung, das haben sie abgerissen. Ich säße gern wieder einmal unter eurem grauen Glasdach, das unter dem Düsenlärm in der Einflugschneise klirrt; jedoch nicht, um in Westberlin zu sein, sondern um euch ins Gesicht und auf die Finger zu sehen.
    Bei uns um die Ecke, an der West End Avenue, steht das Hotel Marseille, ein mit Zinnen bewehrter Turm aus einem Mittelalter namens Jahrhundertwende, dem starren die Klimamaschinen aus den Fenstern wie falsche Zähne reihenweise, und das Haus empfiehlt sich mit Bar & Restaurant & T. V. im Zimmer & Schwimmbad. Auf einem Spaziergang mit Marie am Sonnabend ist mir herausgerutscht: Da könnte sie dann wohnen, die Rote Anita. Es fiel mir erst ein paar Schritte weiter auf, was ich da gesagt hatte, und daß es möglich ist. Zur Feier deines Doktorexamens laden wir dich mit Teilkosten ein. Zum Beispiel würde ich dir gern eine ungerade Erinnerung erzählen, etwas aus Minneapolis. Und wir würden dich einführen in die Lektüre der New York Times, der erfahrensten Person der Welt, als erste über den Atlantik, als erste über den Südpol, die Firma Ihres Vertrauens.
    Sincerely yours, G. C.
    P. S.
    Es ist eine Bedingung, daß ihr das Foto aus dem Paß von H. R. Faure nicht in ein anderes Personalpapier umhängt.
    Mr. Mark T. Markshaw, der dies in die Hand drückt, ist so erzogen, daß er fremde Päckchen nicht öffnen kann. Bisher weiß er nur, daß er mir einen Gefallen tut. Wenn er Lust hat zur Besichtigung von Ostberlin, und ihr ihn ausfragen wollt nach den neuesten Kontrollzeremonien an der Grenze, weiß er etwas mehr. Das solltet ihr ihm nicht zumuten.

19. Oktober, 1967 Donnerstag
    Die New York Times hat Streit mit einer anderen Zeitung. Sie hatte der Bolschewistischen Revolution zum 50. Jahrestag als Befund auf den Gabentisch gelegt, die Ausbeutung des Menschen sei nicht abgeschafft sondern dem größten Arbeitgeber der Welt, dem Sowjetstaat, übertragen. Die Pravda schreibt zurück: Man könne das nicht belegen, weil es nichts gebe, mit dem man es belegen könne.
    Ein Schnapshändler in Brooklyn hatte gestern Besuch von drei Gangstern. Statt denen sein Bargeld zu geben, fängt er an zu schießen.

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