Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
eine kleine gelbe Figur an der Kette hin und her wie angetrieben. Seine Stimme wechselt die Lautstärke maschinenmäßig; auf den beiläufigen Gesprächston bei der Begrüßung folgt hart und heiser das Bellen, mit dem er den Auftrag in die Schnellküche hinter ihm weitermeldet, und später das präzis artikulierte Ausrufen der erledigten Tüten. Aber er ist nicht nur Annoncier, außer dem nimmt und wechselt er das Geld, holt die fertiggestellten Tüten aus der Durchreiche und entnimmt seinen drei Wandtelefonen neue Orders, und auch diese muß er mit dem Begleitpapier des Kassenzettels versehen und identifizieren mit zügigen Schriftschnörkeln, die allesamt mit dem selben gedrückten Bogen beginnen, der erst in einem langen Schwanz in verschiedener Ausführung seine Bedeutung offenbart. Zum Schreiben muß er sich bücken, steht krumm, auf einen Ellenbogen gestützt, zum Aufnehmen der Wünsche muß er sich aufrichten, auch mit einer tippenden Bewegung des Fingers den Besteller zu raschem Aussprechen herausfordern; zur Durchreiche muß er sich in den Hüften drehen; beim Anschlagen eines seiner drei Apparate muß er sich schräg zur Wand strecken, mit einer Tüte voll Kaffeetöpfen an waagerecht gehaltener Hand überrascht. Gelegentlich hat er eine Hand zu wenig. Er klagt gar nicht; nur wenn er einen Handrücken gegen seinen zurückweichenden Haaransatz drückt, wird so etwas wie Schmerz sichtbar. Bei den ersten Begegnungen sah er aus wie ein Überladener; mittlerweile scheint er vergnügt bei seiner Arbeit, und wenn auch nur, weil er sie gut kann. Er spricht mit den Kunden aus dem Haus nicht anders als mit den Boten, zumeist farbigen oder abgerissenen weißen Männern, die die telefonischen Anforderungen in den Stockwerken der Bank und der umliegenden Häuser verteilen, nur daß er ihnen manchmal ein ermunterndes Wort mitgibt. Es klingt wie: Guter Junge, und nach dem Kinderzimmer, und doch anerkennen die abgekämpften Tütenträger seine Absicht nicht selten mit einem gequälten Lächeln. Er zieht seine Kundschaft auch nicht ohne Unterschied ins Gespräch, seine Partner sollen Lust dazu haben. Den Herrn, der fünfmorgendlich durch den langen Gang auf ihn zukommt, in eine Lederjacke statt in einen Büroanzug gekleidet, würdigt er nie eines Wortes; allerdings ist die Tüte für diesen Bezieher bereit auf der Theke, sobald er sie erreicht, immer mit dem abgezählten Betrag in der Hand, und die beiden sehen einander kurz in die Augen und nehmen Abschied ohne ein Wort, so daß wir nie erfahren werden, was der in seine Tüte kriegt, ein Frühstück komplett oder Coke diät, denn dies wird nicht ausgerufen. Die anderen nennt er seine liebe Jennifer, ihnen wünscht er einen ausgefallenen guten Morgen, er lobt die Frisuren der Mädchen und erkennt einen neuen Pullover auf den ersten Blick, und der Ratschlag, den er am häufigsten erteilt, heißt: Streng dich nicht zu sehr an. Take it easy. Er kann aus seiner Schreibhaltung hochkommen mit einem nahezu fürsorglichen Blick und sagen: Na, heute mal etwas zum Essen außerdem?; es ist kein Verkaufsversuch und niemals erpreßt er die Treue der Käufer mit auch nur zwei Worten, die zum Wiederkommen einlüden. Deshalb kommen wir wieder, und lassen uns helfen von ihm beim Anfangen des Tages. - Wir sind dir sehr zu Dank verbunden, Sam.
Die Dame, die an manchen Tagen an der Kasse sitzt, zierlich, elegant, mit ihren gar nicht verarbeiteten Händen an ihren Halsketten spielend, redet ihn aber mit einem anderen Namen an, Jerome, oder Jeremy. Womöglich will er sich als Sam mehr handlich und tüchtiger machen.
Am frühen Nachmittag, wenn die Herde der Tische schon aufgeräumt und verlassen am Straßenschaufenster hockt und auch die Drehstühle um die drei Hufeisentheken nur spärlich besetzt sind, werden bei Sam nur noch telefonische Wünsche abgerufen, Kaffee für die Verkaterten und Eis für die frühen Trinker, und er unterhält nebenbei Gespräche mit den Essenden, die neben seinem Brett thronen. Heute spricht er von der Vorliebe der ermordeten Linda Fitzpatrick für Methamphetaminhydrochlorid, die Geschwindigkeitsdroge, die die Empfindung unerhört rasanten Aufwachsens vermittelt, bevor sie das Opfer kaputt und zerbrochen zu Boden fallen läßt. Kann er nicht verstehen. - Wenn ich nicht ohne das wach bin, biste doch erledigt: sagt er.
– Und daß sie die Adresse angeben. So ne Zeitung wie die New York Times! Beschreiben wo du das Zeug kriegst! sagt er. Er schreibt, er ist
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