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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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hindurchtrat zwischen den frierenden Kindern, die dort auf ihre Eltern warteten, hatte er die Gespräche an der Theke vergessen. Er hatte mitgelacht über die Tiraden, die Miss Newton, eine ältliche Fürsorgerin, vor dem Magistrat gehalten hatte gegen die Verschiebung der Polizeistunde auf halb elf, um eine halbe Stunde. Er war fast eine Auskunftsperson in dem Stadtgespräch Nummer Eins, das weder die Schließung des Gaswerks von Richmond begriff noch daß die Arbeiter sämtlich gekündigt werden sollten. Dennoch werden sie dies rosa rostige Ungeheuer von einem Gasbehälter nicht abreißen! Der Mann mußte es wissen, der hatte da in der Nähe einen Betrieb, Holzbearbeitung oder so. Säuft erst neuerdings.
    Was Cresspahl auf dem Heimweg durch die kahle Petersham Road vor Augen hatte, im pfeifenden Wind der Kanalstürme, war Lisbeths Gesicht hinter der Scheibe des anruckenden Zuges im Victoria-Bahnhof. Er hatte, auf der Suche nach einem letzten möglichen Wort, sich so unbehilflich angestellt, daß sie die Verhandlungen mit Gepäckträger und Schaffner erledigt hatte, bevor er den Mund aufbekam. Sie zeigte ihm, daß sie ausreichend Hilfe auf der Reise haben würde, und daß sie überdies sie benutzen konnte. Er hatte außer dem verstanden, daß sie hier etwas allein tat, ohne ihn, gegen ihn. Sie hatte sich an beiden Armen in den Waggon gezogen. Sie hatte hinter der Scheibe gestanden, mit hängenden Armen, als sei ihr das Öffnen des Fensters zu beschwerlich. Sie hatte nichts angesehen als ihn. Es war ein anderes Gesicht. Sie schien jünger, und zu jung für ihre neuen Erfahrungen. Sie hatte wieder ein Mädchengesicht, etwas ungenau um die Augen, ein Weniges starrsinnig. In seiner Erinnerung, in der Finsternis des verlassenen, ungeheizten Zimmers, stand es still, bis es schwankte unter dem Ruck des anfahrenden Zuges und schräg wegfiel.
    Mitte Februar schickte er ihr eine Ansichtenkarte. Sie zeigte die Richmond Bridge, und unter die Pfeiler hatte er ihr die Gründungen aus Ulmen- und Eichenholz skizziert, die schon 156 Jahre im Wasser aushielten. Er schrieb von den Fortschritten der Aufträge, die sie noch kannte, auch Grüße von Dr. Salomon und Mrs. Allen. Dann war der Raum für den Text erschöpft. Denn es mochte zwar sich so verhalten, daß er ohne sie schlecht leben konnte, aber es ging nicht an, daß er ihr das aufschrieb, nicht wahr.
    Als sie ihm drei Wochen fehlte, war er ziemlich überzeugt, sie sei mit seinem Einverständnis, wenn nicht auf sein Drängen hin nach Jerichow gefahren, zum mindesten ohne Streit. Er war jetzt ganz unbefangen, und in seiner Erinnerung war sie es auch.

20. Oktober, 1967 Freitag
    Die letztwöchigen Verluste der U. S. A. in Viet Nam ergeben jetzt eine Gesamtzahl von 13 907 Toten und 88 502 Verwundeten seit dem 1. Januar 1961.
    Die Studenten des Brooklyn College, die gegen die Anwesenheit von zwei Werbeoffizieren der Marine auftraten, sind schwer von der Polizei heimgesucht. Eines der Bilder in der New York Times zeigt einen Beamten, wie er offenen Mundes sein Gefühl ablädt in den Knüppelschlag auf eine kleinere, mädchenartige Person. Das Foto wäre für eine Fahndung nach ihm geeignet.
    Für das Wochenende steht eine Demonstration gegen den Krieg bevor, in Washington, D. C. Dort sind jetzt, zum Schutz des Pentagons, Truppen der 82. Luftlandedivision eingetroffen.
    Auf dem Weg von London nach Jerichow wollte Cresspahl in Lübeck einen Zug überschlagen. Er verlangte von sich Eile nach Jerichow. Er mochte sich das nicht auferlegen. Als er die ungeschickten Treppen in die Querhalle des Bahnhofs hinauf war, konnte er hinuntersehen auf den stettiner Schnellzug, über Gneez, mit Anschluß nach Jerichow. Er wußte, daß Eile nach Jerichow von ihm zu erwarten war. Er hatte ein flaues, widerwärtiges Gefühl künftiger Schuld. Es war ihm lieber als die Aussicht auf Papenbrocks Haus, auf Louise Papenbrock und die verlogene Frömmigkeit, mit der sie ihn vor das Zimmer führen würde, in dem er mittlerweile ein neugeborenes Kind annehmen durfte. Er war noch nicht fertig für das Zimmer. Übrigens war er da gar nicht erwartet. Er hatte sagen hören, daß solche Kinder in den ersten Lebenstagen ohnehin nicht gut sehen. Als er seine Reisetasche los war, schien ihm der Aufschub geglückt und nahezu in Urlaub verwandelt.
    Die Kerle vom Zoll in Hamburg waren auf eine wilde Art feierlich gewesen. Sie hatten ihn mit Namen beglückwünscht zur Heimkehr nach Deutschland. Wäre er nicht

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