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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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an (nicht Mrs. Jones, die dafür zwei andere Anstellungen hatte aufgeben wollen), eine diplomierte Säuglingsschwester, die zudem sich auf Kochen verstand. Cresspahl hatte sagen hören, daß Väter beim ersten Mal sich lächerlich benehmen, und er achtete also darauf, ob er seine Frau zum Lachen brachte, wenn er sie nichts Schweres anfassen ließ oder ihr Essen nach den Vorschriften des Arztes überwachte. Er brachte sie nicht zum Lachen. Manchmal schien sie nicht ihn zu hören, sondern schon das Kind unter ihren gefalteten Händen. Aber die Schweigekrämpfe waren seit dem Herbst ausgeblieben. Es kam öfter vor, daß er für sich dachte: Es wird gut gehen.
    Einmal, im Januar, traf er sie in einer Seitenstraße der George Street. Damm und Bürgersteige waren fast unbegangen. Sie hätte ihn näherkommen sehen können. Sie ging langsam, mit abgesetzten Schritten, eine Hand auf der Hüfte, und sah nicht vor sich hin, sondern an den Häusern empor. Es sah aus, als suche sie etwas über den angeberisch verzierten und bekuppelten Mansarden. Sie hielt ihr Gesicht fast unbeweglich. Ihre Haut war kalt und gerötet vom Wind. Ihr Blick war sonderbar klar, zeigte keinen Gedanken. Sie ging an ihm vorbei, obwohl er stehengeblieben war. Bei einer Wahl zwischen ihr und dem Kind hätte er sich gegen das Kind entschieden.
    Dann, Ende Januar, bat sie ihn, bei Moxon, Salt & Co. in der Regent Street anzurufen. Es war die Vertretung des Norddeutschen Lloyd, und sie wollte eine Schiffskarte nach Hamburg. Cresspahl war so wenig auf der Hut, daß er fast sofort geantwortet hätte. Dann sah er, daß sie sich auf den Streit vorbereitet hatte wie auf eine Arbeit und daß sie beliebig lange sitzen würde wie jetzt, ein wenig krumm, mit den Unterarmen auf den Knien, den Bauch abstützend, ergeben und unbeugsam. Er sagte vorsichtig: Du kannst nicht beides haben, ein Kind bei dir zu Hause und mich auch in Jerichow. Und sie sagte, nicht unfreundlich: Was geht dich das Kind an, Cresspahl.
     
    – Darum bin ich in Jerichow geboren.
    – Würdest du es erheblich vorziehen, geboren zu sein in Richmond? sagt das Kind, sagt Marie. Das ist nun ihr Deutsch. Sie sitzt vor ihrem Abendessen, die Fäuste unters Kinn gestemmt, sehr neugierig.
    – Das will ich dir sagen. Und daß ich da aufgewachsen wäre, und hätte England nie verlassen.
    – Das verstehe ich nicht. Ach so. Ach so. Na ja entschuldige.

17. Oktober, 1967 Dienstag
    MÄDCHEN SAGEN JA ZU MÄNNERN
    DIE NEIN SAGEN
    (auf einem Plakat bei einer Demonstration in San Francisco gegen die Einziehung zum Kriegsdienst). Die Marine hat in Viet Nam zum zweiten Mal binnen drei Tagen eigene Stellungen bombardiert.
    In Prag hat die New York Times sich erzählen lassen, daß Fräulein Zdena Hendrych, Tochter des Zweiten Manns in der Partei, aus Liebe zu dem Schriftsteller Jan Beneš ein Dokument des Zentralkomitees aus dem Schreibtisch ihres Vaters stahl. Jetzt liegt das Schriftstück bei Emigranten in Paris, Beneš ist für fünf Jahre im Gefängnis, und Vater Hendrych wütet gegen Schriftsteller. Nur daß Vaculik, Liehm, Klima, Kundera, Prochazka die Wahrheit nicht über die Grenzen geschmuggelt haben sondern lediglich Stücke davon öffentlich im Land vorzeigten.
    Tovarishtsh Stalin skasal shto my dolshny bytj inschenerami tshelovetsheskich dush!
    – Komm doch ran! sagt Sam. - Tritt doch vor! Halloh Süße! Zwei Tee mit, ein Kaffee ohne! Wem sagst du das! Mal los! Dreimal Dänisch, jawohl! Hier ist deins, Dschi-sain!
    Sam bedient an der Theke im Hintergrund der Hauscafeteria, wo die Sachen zum Mitnehmen abgegeben werden. Morgens, kurz vor Beginn der Arbeit, ist die Schar der Wartenden vor ihm am dichtesten, und vom Bürgersteig wie aus dem Inneren der Bank folgen die Kunden nach, so daß er fast unablässig spricht, fast ungeduldig, wenn er seine Stimme nicht beschäftigen kann. Sams Alter kann man ihm nicht ansehen. Manchmal rückt ein vertraulicher Wortwechsel ihn in die Nähe der jugendlichen Schreibkräfte, von denen er nicht nur den Vornamen sondern auch Umstände weiß; öfter macht sein schweres, von Arbeit ausgelöschtes Gesicht ihn fast fünfzig. Er ist untersetzt, stämmig, fett auf eine ganz stramme Art. Wenn er die Besteller anredet, hat sein Blick etwas Einhakendes; in den wenigen müßigen Momenten scheinen die Augen unter der Dutzendbrille schwer, traurig. Seine dünne, pyjamaähnliche Jacke ist meist verrutscht unter seinen raschen Bewegungen, und über dem Rand des Unterhemdes schaukelt

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