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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Greifen sich die Gangster den vierjährigen Schnapshändlerssohn, trifft der Vater das Kind in den Unterleib.
    Was gingen Cresspahl die fetten Schlagzeilen an, mit denen die britischen Zeitungen die Ernennung eines Herrn Hitler zum deutschen Reichskanzler meldeten! die regten sich auch nicht auf und fanden den Führer der größten Partei an der richtigen Stelle, unter Aufsicht der versammelten Rechten; Börse ruhig, Mark etwas anziehend gegen Pfund. Ihm aber, Cresspahl, war die Frau davongefahren über den Kanal, mitten in einer Kältewelle aus Rußland, in der 31. Woche schwanger. Gewiß war es in England kalt wie seit sieben Jahren nicht, aber bei Lübeck war der Dassower See zugefroren. Da gingen die Fischer zu Fuß zur Arbeit und hackten sich Löcher in den entlegenen Buchten. - Mir ist kalt: hatte sie gesagt. Dann war sie in die Kälte gefahren.
    Am Abend vor ihrer Abreise hatte Cresspahl die Versammlung des Anglo-German Circle von Richmond besucht, allein. Zu Hause hätte er ihr zum Bleiben zureden müssen, auch sie hätte es erwartet. Der Gastredner des Abends, Herr von Dewall von der Frankfurter Zeitung, stellte es als den Wunsch der Deutschen hin, daß sie nicht mehr als eine kleinere Macht angesehen wären. Er dachte da an eine begrenzte Aufrüstung und verwies auf das Beispiel des unbewaffneten China, das in Japans Gewalt sei. Dr. Jackson befragte Wolf von Dewall nach seinen englischen Eindrücken. Der Vertreter der Frankfurter Zeitung sprach von der Entwicklung eines gänzlich neuen Menschenschlags in Deutschland. Die Leute hätten sogar neue Gesichter. Von Dewall bewunderte die Engländer. Schwer von Entschluß, täten sie einen Schritt doch unveränderlich in die vernünftige Richtung. Cresspahl konnte von der Veranstaltung zu Hause nichts erzählen; die deutsche Sucht nach Waffen und die englische Beständigkeit hätten ausgesehen wie noch mehr Gründe gegen die Reise nach Jerichow. Er mochte ihr nicht Herrn von Dewall beschreiben: sie hätte seine Wut sich selbst zugedacht. Er saß eine Weile im Dunkeln auf ihrer Bettkante. Dann glaubte er das Licht fast lautlos eingeschaltet zu haben, aber sie hatte die Augen offen, lächelnd wie ein Kind, das eine Überraschung vorausgesehen hat und sich verstellt, um weder die eigene noch die andere Freude zu beschädigen.
    Am 31. Januar 1933 meldete der Daily Express aus Berlin, ein General Schleicher habe mit einem militärischen Staatsstreich eine Diktatur des Militärs errichten wollen. Die potsdamer Garnison sei bereit gewesen, auf die deutsche Hauptstadt zu marschieren. Sie war aber nicht marschiert. Die S. P. D. hatte beschlossen, einen Mißtrauensantrag gegen das Kabinett der Harzburger Front einzubringen. In bewährtem Gegensatz hatte die K. P. D. beantragt, der Reichstag möge der Regierung Hitler/von Papen das Vertrauen entziehen. Nun war der Reichstag aufgelöst. Was war da Neues? Zu Cresspahls Verblüffung aber hielt alle Welt für natürlich, daß eine junge Frau zu ihrer ersten Entbindung nach Hause fuhr. Nun es ihn betraf, fand er es nicht natürlich. Er hörte ein Gespräch zwischen seinen Gesellen ab. Sie sprachen über Mrs. Cresspahl. Perceval zählte die Hausarbeiten auf, die er für frühere Meistersfrauen habe machen müssen. So habe Mrs. Cresspahl ihn eine geschlagene Stunde lang einen Pfefferkuchenteig durchkneten lassen. Dann aber habe sie eine Schüssel mit dem fertigen Gebäck in die Werkstatt gestellt. - War ich baff: sagte Perceval. - Aber das Maul: sagte er: das der Chef neuerdings zieht. Eine richtige miese tückische Schmollfratze von einem Pfennigfuchser hat der Mann sich angenommen. Versteh ich nicht. Von der bekäme ich ein Kind mit Freuden! und Mr. Smith sagte freundlich: Halt die Klappe, T. P. Mr. Smith, ausgemergelt vom Trinken, hatte viel zähe Kraft in seinen langen Armen übrig, und wenn er den Jüngeren zwischen fülligen Brauen und dem Rand seiner Nickelbrille hervor ansah, machte er ihn so stumm wie er wollte. Cresspahl hatte bisher nicht mit Behagen angesehen, welche Mühe Mr. Smith sich mit dem Alkohol gab, aber an diesem Abend schickte er nach Bier. Das war nicht, weil Mr. Smith ihm Percevals Erziehung ein bißchen abnahm.
    In Richmond gab es 60 Gaststätten mit Ausschankgenehmigung, und Cresspahl war fast jeden Abend unterwegs, als wolle er sie alle kennen lernen. Er trank langsam, nahezu planmäßig, bis er sich müde genug zum Einschlafen fühlte. Aber schon wenn er aus der Kneipentür kam und vorsichtig

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