Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
gekleidet gewesen wie zu einer Beerdigung, sie hätten ihn womöglich in die Rippen gebufft. Es war indessen ein gewöhnlicher Arbeitstag, der 2. März 1933, ein Donnerstag, und er wollte einmal in der Freien Hansestadt Lübeck nachsehen, ob sie da auch so aus dem Häuschen waren.
Die Ausgänge des Bahnhofs waren locker verstellt mit Uniformierten; je einer im alten Polizeigrün und einer im Anzug der S. A. ließen sich da Brieftaschen zeigen. Aber der städtische Beamte, der die Reisenden seinem Partner zuführen sollte, trat oft beiläufig von ihm weg, in einer verlegenen Weise, so daß die Kontrolle im Gedränge den Anschein einer unseriösen, fast unsittlichen Handlung annahm. Dennoch legte sich Cresspahl ein hilfsbereites Wesen zu (mit dem er sein Lebtag Begegnungen mit Amtsträgern eingeleitet hat), als ob er in Geduld warten wolle, bis der Braune auch ihm seine Papiere so befingere wie jetzt den beiden Jungen, die unter ihren Schiebermützen nicht nach Arbeitern aussahen, eher nach Friseurlehrlingen. Jedoch der Posten mit dem Tschako machte ihm mit wütendem Kinnschwenken deutlich, daß die Fahndung nicht galt für Leute, die in schwarzer Kleidung und geputzten Schuhen einen Besuch in Lübeck machten, und auf dem Bürgersteig erwischte Cresspahl von ihm noch einen angewiderten, fast mitleidheischenden Blick. Der Polizist schien sich zu ekeln vor der Privatarmee dieses Hitler, und Cresspahl hätte ihm fast zugenickt.
Erwin Plath wohnte in der Vorstadt St. Lorenz Nord, in einer Seitenstraße der Schwartauer Allee, in der Nähe des Grenzschlachthofs, und Cresspahl stand etwas erstaunt vor dem stattlichen, sauber bemalten Giebelhaus, ehe er klopfte. Die Frau fuhr ihm entgegen, als hätte sie hinter der Tür gelehnt. - Mein Mann ist nicht da! schrie sie, - mein Mann ist nicht da! sagte sie noch einmal, und Cresspahl trat einen Schritt auf den Bürgersteig zurück, damit sie ihn genauer betrachten konnte. Das half ihr nichts. Ihr Mann sei nicht da! rief sie aus, als sollten alle Nachbarn es erfahren. Cresspahl öffnete langsam die beiden oberen Mantelknöpfe, aus Verblüffung, auch weil ihm der Kragen stramm saß, und unverhofft flüsterte sie etwas. Er verstand, daß Erwin am Nachmittag beim Hindenburghaus »zum Folgen« antreten werde. - Mein Mann ist nicht da! gab sie ganz laut von sich, und Cresspahl versuchte erst gar nicht zu antworten. Als er wieder in der Schwartauer Allee war, erlaubte er sich Kopfschütteln. Erwin hatte ihm vor Jahren in Hamburg erzählt von einer zwar eigensinnigen, aber verträglichen Ehefrau, und nicht von einem verängstigten Mädchen, das sich in Schauspielerei versuchte.
Auf der Eisenbahnbrücke wandte er sich nicht nach rechts, sondern geradeaus auf den Ebertplatz zu, ging über den Stadtgraben, an den Puppen vorbei, ließ sich von einem Denkmal mustern, gab ihm Widerrede,
sag du doch mal was, Bismarck
umrundete das Holstentor in seiner Erdschüssel und verschwand in der inneren Stadt. Da war kaum etwas zu sehen. Er besichtigte die vollgestellten Möbelgeschäfte, und ihm mußte keiner erklären, daß die Arbeitslosigkeit immer noch auf die Abzahlungsgeschäfte drückte, daß darum die Sägewerke zögernd kauften und daß hier auf einen wie ihn nicht gewartet wurde. Eben noch hatten die Kaufhäuser Weiße Wochen veranstaltet. In den Schaukästen eines Maklers drängten sich Häuser zu billigen Preisen. Er wurde mehrmals aufgefordert, ja nicht die Obstbaum- und Schweinezählung am 3. März zu versäumen. Er wurde amtlich darauf hingewiesen, daß das Jahr 1933/34 zu denen des Maikäfers zähle. Stand, ein stämmiger Mensch in Feiertagskleidung, die Hände auf dem Rücken, vor Anschlägen und Schaufenstern und Zeitung-Aushängen, ging gemächlich die Breite Straße hinunter, die Königstraße hinauf, hielt die kurzen krummen Haare auf seinem nackten Schädel in die weiche fließende Luft, etwas neugierig, immer noch nicht überrascht.
Dann sah er etwas, aber die Zeit fing an so schnell zu laufen, daß er am nächsten Tag nicht mehr alles glaubte. Am Hindenburghaus marschierte ihm ein Trauerzug entgegen, mit gedämpften Trommeln, Fahnen der Marine und mit Hakenkreuz, und am Ende, weit hinter den blauen und braunen Uniformen, sah er wahrhaftig Erwin latschen, ein bißchen krumm, als seien sie doch nicht gleichaltrig, mit etwas stierem Blick, als helfe er tatsächlich jemand zu Grabe tragen. Nur, was hatte ein eingeschriebener Sozialdemokrat zu tun mit einem verstorbenen
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