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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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beschäftigt, er kann noch den Kopf schütteln, ärgerlich und betrübt. - Führen die Kinder an der Hand dahin! sagt er.
    Er hat schon Minuten lang Ruhe vor Telefon und Kasse, aber er setzt sich nicht hin, steht krumm vor der niedrigen Theke und zählt Geld. In seinen Händen erscheinen Bündel nach Bündel grüner Scheine, und wie es ihm zwischen den Fingern dahingleitet, scheint er sich damit die Hände zu waschen.
    – Glückwunsch: sagt Mrs. Cresspahl. - Ach Gesine: sagt Sam, freudlos, erschöpft, und jetzt sieht sie, daß seine Bewegungen etwas Steifes, Ungleichmäßiges haben, das in der Eile der Hauptverkehrszeit verdeckt wird. Sie bemerkt auch zum ersten Mal die schrundigen Falten in seinem Stirnfett, die kranke Hautfarbe unter dem Schweiß. - Dieser Laden: sagt er:
    (und er ist hier nicht angestellt. Er wird nicht hier ausgebeutet. Der ganze Laden ist sein Bier, er zahlt die Miete, er hat ihn ausgebaut, er kommt auf für den Lohn von drei Köchen, neun Serviererinnen, zwei Kassendamen, er ist hier der Chef)
    – Dieser Laden, soll ich dir sagen, wie ich da rauskomme? Wenn du da rauskommst. In einem Kasten, will ich dir sagen. In einem Kasten!
    In einem von diesen rundlichen Metalletuis, die die Polizei zum Abtransport von Leichen benutzt, kurz nachdem zwei Männer mit kleinen schwarzen Filzhüten aus braunen Tüten ihre Schießeisen holten und Sam über den Haufen schossen.
    Nein. Er wird einen Revolver neben der Kasse haben. Der läßt sich nicht eine einzige Tageseinnahme wegnehmen.
    Also wird da doch Zeit sein, einen Sarg zu holen, nicht den endgültigen, einen städtischen Wechselsarg ohne Verzierung, nachdem Sam vor der Schnellküche zusammengesackt ist, mit ein bißchen Überraschung aber nicht Wut über den Schmerz, der ihm unverhofft aus dem Herzen über den linken Arm ins Gehirn stieg und es löschte. Hoffentlich verliert er beim Fallen nicht die Brille, so daß das dahinter versteckte Gesicht uns erspart bleibt. So wird es sein.
    – Isnschon dabei: sagt Sam geduldig. Vielleicht war er als Kind viel Prügel gewohnt.
    – Nu erschrick doch nich so, Dschi-sain!

18. Oktober, 1967 Mittwoch
    Heute bei Sonnenuntergang beginnen die Juden das Fest der Laubhütten, Sukkoth. Für die Orthodoxen unter ihnen dauert es neun Tage, die Reformierten feiern nur acht. Die Bibel verfügt das Fest im 3. Buch Mose, Levitikus XXIII , 43: »damit eure Nachkommen erfahren, daß ich die Israeliten in Hütten habe wohnen lassen, als ich sie aus dem Lande Ägypten herausführte (ich, der Herr, euer Gott)«.
    Liebe Anita Rotekreuz. Meine Guteste.
    Dies hab ich dir aus der New York Times abgeschrieben. Denn Dergleichen sollte der Junge wissen, den ihr aus Ostdeutschland holen wollt, wenn er nicht nur Jude ist sondern auch so danach aussieht, daß ihr keinen Paß verwenden mögt als einen mit jüdischem Glaubensbekenntnis.
    Schon sechs Jahre habe ich sie zu Nachbarn, und kann sie von den andern nicht unterscheiden. Womöglich gibt es solchen Blick als Begabung. Ich habe sie nicht. Ist die ostdeutsche Grenzpolizei hierin ausgebildet?
    Einen Menschen, der so aussieht wie der auf eurem Foto, habe ich gefunden. Er ist zwar zwanzig, nicht neunzehn Jahre alt. Er ist, ganz wie ihr wünscht, mit der französischen Sprache aufgewachsen, von Nationalität Belgier. Er besucht seine Großeltern, zwei Blocks von unserer Ecke entfernt, und da wir die alten Faures von Broadway und Riverside Drive her kennen, haben sie für mich gutgesagt. Eigentlich vertrauen sie mir Maries wegen. Sie nehmen das Kind als Garantie. Leider glauben sie, daß wir diesen Transport in den Westen der Judenheit zuliebe übernehmen, und sind gerührt. Der Junge, der mir seinen Paß gab, macht mit aus Gründen, die er für politisch hält.
    Viel Zeit habt ihr nicht. Denn die hiesige Aufenthaltsgenehmigung für Henri R. Faure gilt nur bis zum 18. November, und bis dahin muß ich das Formular der Einwanderungsbehörde wieder über dem Visum der U. S. A. befestigt haben, damit er beweisen kann, daß nicht nur er sich nicht aus dem Land gerührt hat, sondern auch der Paß die ganze Zeit in seiner Tasche war.
    Eurem »Henri R. Faure« werdet ihr die übliche Ausstattung mitgeben; ich lege aber einen Lebenslauf der echten Person bei. Dazu ein Buch über die Obere Westseite von Manhattan, »The Airtight Cage« von Joseph P. Lyford, damit euer Schützling den Kontrolloffizieren zur Not etwas erzählen kann von Besuchen bei Großeltern in New York.
    So pünktlich ist es

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