Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
verstehe ich nicht, Mr. Welch.
– So geht es mir auch. Solche Fragen stellt doch nur die Polizei, und verzieht sich, damit Einer auch wirklich nichts begreift. Heute nachmittag kam sie wieder. Man kann sich ja mal in der Nummer versehen.
– Oh gewiß, Mr. Welch.
– Und ich sagte ihr versehentlich, Sie und die junge Dame hier seien im Wasser. Diesmal wollte sie auch herein.
– Ist sie jetzt noch da?
– Wo denken Sie hin, Mrs. Crisspaw. Die wilde Landschaft der Straße hat sich hinter ihr geschlossen.
– Mr. Welch, wenn sie wiederkommt, wollen wir die Tagesgebühr für sie bezahlen. Ob wir nun im Club sind oder nicht.
– Es ist doch ein schwarzes Mädchen.
– Es ist eine Bekannte von uns. Eine Freundin.
– Soll das heißen, Sie sagen gut für dieses Kind?
– Das soll es heißen. Hier ist ein Dollar.
– Ein Dollar ist ein Dollar, Mrs. Crisspaw; aber Sie wissen hoffentlich, was Sie da tun.
Seit die neue Regierung der Č. S. S. R. vor zwei Wochen die Zensur abgeschafft hat, begegnet die New York Times in Prag unvertrauten Schwierigkeiten: Spricht die Regierung, oder spricht da schlicht ein Fernsehjournalist im Fernsehen, wenn er vor übereilten Säuberungen in den Reihen der stalinistischen Alten Garde warnt? Wenn Alexander Dubček seine ökonomischen Reformen durchsetzen will, wird er auskommen ohne Aufräumarbeiten in der Bürokratie? »Er soll gegen eine Blutrache sein.« Diese Ungewißheiten, wenn ein Kommunist damit aufhört, das Fernsehen des Landes als sein Privateigentum zu benutzen!
10. März, 1968 Sonntag
In Prag durfte einer im Radio sagen, es solle die Zukunft der Nation von der gesamten Bevölkerung bestimmt werden, nicht nur von den Kommunisten. Die Kommunisten treffen sich in 66 Bezirkskonferenzen und besprechen miteinander, wie sie den Präsidenten Novotný loswerden können ohne die Mittel Stalins, in denen Novotný so firm war. Unter den Funktionären Ostdeutschlands hörte die Times Unruhe, wegen der wirtschaftlichen Bindungen mit der Č. S. S. R., nicht etwa weil die Liberalisierung des Lebens dort im eigenen Machtgebiet eine Aussicht hätte. In Warschau sind Studenten schon den zweiten Tag ungehorsam; sie verlangen mehr Demokratie, eine aufrichtige Presse, und dessen gleichen.
Es war ein Besuch bei Freunden.
Im amerikanischen Sinne des Wortes sind Jim und Linda Freunde. Sie lassen einen teilhaben, wenn sie ein Haus an der See in New Jersey mieten, sie wollen gemeinsame Essen, sie kommen auf einen Schluck vorbei, sie erkundigen sich eindringlich nach dem Ergehen und erzählen vertraulich von ihren Kindern, Eltern, Tanten, so daß sie uns recht vollständig im Gedächtnis bleiben, selbst wenn wir sie seit fünf Monaten nicht gesehen haben. Vielleicht hing der Besuch zu sehr an dem höflichen Anlaß. Die O’Driscolls sind von der Oberen Westseite weggezogen, erst jetzt sitzen sie fest genug in einem Souterrain im Greenwich Village, nun sollten auch die Cresspahls die neue Wohnung ansehen. Jim ist noch schwerer geworden, kann sich im Sessel manchmal nur durch gewaltiges Wälzen bewegen, hat aber die Wände selber gestrichen, die Zimmer mit Putz und Holzarbeiten gerichtet, ein mächtiges Trumm Mann, neuerdings mit einem traurig hängenden Rotbart unter der Nase. Immer noch beobachtet er seine Linda mit Vergnügen und lobt sich insgeheim dafür, daß er sie vor fünf Jahren in Griechenland nicht nur fand, sondern auch mitnahm nach New York. Linda hat seine Art Englisch gelernt, New Yorkisch mit gewichtigen irischen Tönen, auch solche Einfälle, daß sie mit Freunden einen Kindergarten unterhält, wenn die städtischen nicht ausreichen, Linda mit den Bauernzöpfen, schwarzen Blicken Eifersucht, der staunenden Miene beim Anblick eines der eigenen Kinder, als seien ihr mit Patrick und Patricia Wunder gelungen. Bei den O’Driscolls tun die Kinder, als müßten sie sich die Eltern täglich neu erkämpfen, so oft kommen sie von dem kleinen Hintergarten herein, hängen sich an Jims Hals, legen sich in Lindas Schoß, damit sie ja nicht vergessen werden. Überall lag Spielzeug herum, weil Jim zum Arbeiten ein Büro hat, in dem er ein Studium der Psychologie dazu verwenden soll, immer neue Verkaufsmöglichkeiten für die Spielzeugindustrie zu erfinden; der Besuch fühlte sich willkommen, behaglich, lange bekannt, bei Freunden.
Bei ihnen wird Mrs. Cresspahl begrüßt mit der vorfreudigen Frage, was das gute Wort, die gute Nachricht sei, worauf man sagen soll, Irland sei frei
Weitere Kostenlose Bücher