Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
oder finanziell verstehen? Und Jerichow hatte zu lachen.
Oma Klug hatte dem Leben in Cresspahls Haus als einem bequemen Altenteil entgegengesehen. Dann war auch Alwin Paap zur Wehrmacht gezogen worden, und mit den groben Arbeiten wurde sie nicht fertig. Hätte wohl gern noch lange gesessen auf dem Stuhl, den sie sich vor Cresspahls Haus in die Sonne gestellt hatte, angenehm betäubt von der Sonne. Es gefiel ihr, daß es zwei Katzen im Haus gab. Sie erzählte dem Kind Märchen in der Nacht, eigensinnig, mit geschlossenen Augen. Sie machte dem Kind auch Angst. Wenn man einen Kranz im Kopfkissen spürt, geht es zu Ende. Oma Klug starb im gneezer Krankenhaus im Oktober 39.
Frieda Dade kam, weil sie von einem Luftwaffensoldaten schwanger war und nicht glaubte, daß er sie heiraten werde. Zu ihrer Familie konnte sie nicht, nun wollte sie in Cresspahls Haus einen Platz haben. 21 Jahr alt, Abschluß einer Haushaltsschule. Dicke Fleischwülste unter schmalen Augen. Hochfahrend aus Angst vor Tadel, gegen das Kind streng wie gegen einen Erwachsenen. Sie war es, die die Küche wieder in Schick brachte, aber sie wurde nach vier Wochen doch geheiratet, und ging zurück zu Friseur Dade in Gneez.
Grete Selenbinder blieb am längsten. Sie war Witwe, ihr Sohn bei der Marine; sie hatte Zeit, sie wollte das Geld. Um die vierzig Jahre alt, unermüdlich im Arbeiten, unbedingt aus auf Gehorsam, Lob und gute Formen. Die guten Formen verlangten, daß sie die Hakenkreuzfahne heraushängte, bevor Cresspahl es abermals vergaß. Sie war es, die das ganze Haus in Schick brachte, bis in den Keller, bis auf den Boden. Cresspahl hatte sie im Verdacht, daß sie seine Papiere durchsah, daß sie einen Schlüssel zu Lisbeths Sekretär hatte. Grete Selenbinder wollte herrschen. Wo immer sie konnte, verschloß sie eine Tür; trug einen Schlüsselkorb mit sich, wohin immer sie ging. Wenn das Lob ausblieb, kam das Weinen. Es war nicht wie Louise Papenbrocks taktisch eingesetzt; sie genoß es, und führte die Anlässe eigens herbei. Kirchgängerin. Am Gehorsam scheiterte sie. Am Ende ihres ersten Jahres hatte sie eine Haferflockensuppe für das Kind gekocht. Das Kind verweigerte das Essen. - Wenn du das nicht in drei Minuten weg hast -! sagte sie; und ging weg mit dem Schlüsselkorb. Cresspahl kam in die Küche, sah das Kind verzweifelt vor dem Teller, aß die Suppe in großer Eile sehr reinlich auf. Dann kam Grete Selenbinder und hielt Gesine vor, sie habe die Suppe weggeschüttet. Weil sie auch von einer Lüge sprach, mußte sie gehen.
Das Zimmer, in dem sie sich eingerichtet hatte mit Vertiko und prächtigem Messingbett, wurde dann ohnehin gebraucht für die französischen Gefangenen, die für die Ziegelei angefordert worden waren. Die wurden in der Ziegelei verpflegt, auch der Wachtposten, der Cresspahl ins Haus gelegt wurde.
Dann kam Amalie Creutz noch an zwei Tagen der Woche zum Saubermachen; aber gekocht wurde bei Cresspahl für lange Zeit nicht mehr.
Cresspahl sorgte für das Frühstück, für Brot zum Abend, und wenn Gesine mittags aus der Schule kam, fuhr sie mit Swensons Bus zum Flugplatz. Sie aß dort mit Cresspahl in der Kantine für die Zivilangestellten, und in der Kantine machte sie die Arbeiten für die Schule. Sie war erst acht Jahre alt, und Cresspahl nahm sie noch mit, wenn er abends im rander Strandhotel ein Bier trank. Manchmal saß Kliefoth bei ihnen, und alle vierzehn Tage ein Fremder, den das Kind anfangs nicht gekannt hatte. Jetzt erzog Cresspahl sein Kind selber.
Er brachte ihr bei:
Was ich sehe, was ich höre, was ich weiß, es ist allein meines.
Auch wenn ich weiß, daß ein Name falsch ist, ein Wohnort nicht stimmt, muß ich bei dem Falschen bleiben.
Was mein Vater tut und weiß, es gehört ihm allein. Nur er darf davon sprechen, nicht ich.
Es ist nicht schlecht zu lügen; solange die Wahrheit geschützt wird. Es ist lustig, daß alle anderen Kinder es anders lernen; es ist nicht gefährlich.
Wir haben eine andere Wahrheit, jeder seine; nur mit Cresspahl darf ich meine teilen.
12. März, 1968 Dienstag
Vormittags gegen elf und nachmittags um halb zwei knisterte Schnee gegen die Fenster des Büros. Auf der Straße zerplatzte er, zerlief auf dem angewärmten Pflaster. Um fünf, als die Leute aus den gläsernen Käfigen auf die Straße gelassen wurden, kam dicklicher Regen herunter. Die höheren Stockwerke waren verschwunden; unversehrt werden sie warten morgen früh. Grand Central und die Züge ab Times Square waren
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