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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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auf den Straßen suchen, in den Slums der Oberen Westseite. Dazu trägt man nicht einen Mantel aus London, da könnte sie leicht beschimpft werden, auch beworfen.
    Unsere Slums sind um die Ecke, ausländische Gegend. »Elendsquartiere« sagt man im Deutschen. Aber die Slums in unserem Viertel sind nicht eigens für das Elend vorbereitete Quartiere, anders als die von Bauspekulanten zusammengeklatschten Kasernen für Arbeiter in deutschen Großstädten, ein Bidonville in Paris oder ein Barackendorf für Flüchtlinge. Die Slums in New York sind nicht als Slums gebaut; hier ist der Slum eine Qualle in der Gesellschaft und wandert.
    In den Seitenstraßen zwischen den Avenuen sitzt er inzwischen in vielen der brownstones. Es sind vierstöckige Häuser, die ihren Namen von der ursprünglichen Fassade aus rötlich braunem Sandstein haben, und nach dem Bürgerkrieg waren sie geradezu das Abzeichen für bürgerlichen Wohlstand. Die geräumigen Aufgänge waren für würdige Auftritte geschaffen. Die vier Stockwerke waren bestimmt für eine einzige Familie, mit ihren Dienstboten, innen reichlich ausgestattet mit Edelholztäfelung, eichenem Parkett, marmornen Kaminen, geschnitzten Türen, gedrechselten Treppenspindeln. Darin gab es Salons, prächtige Gesellschaften; davor haben einmal aufwendige Kutschen gehalten. Es waren Luxusbauten, und obwohl die Fronten mittlerweile abgeblättert sind oder schlampig zugestrichen, immer noch nicht passen zu ihnen der Schmutz am Beischlag, die verrottenden Möbelstücke und Matratzen, die unverdeckten Mülleimer, die verschmierten Fenster, die Reste des Müllarbeiterstreiks, verstreuter Abfall, der liegen bleiben wird, wenn er dem Regen widerstehen kann und dem Wind zu schwer ist.
    Es sind aufgegebene Häuser. Gebaut wurden sie für Weiße, Protestanten, Angelsachsen. Die Iren, die in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in hellen Scharen hierherkamen, versammelten sich in den Miethäusern entlang der Columbus und Amsterdam Avenue, aber viele sparten auf ein solches braunes Haus nach der letzten Mode und freuten sich des Besitzes durch Untervermietung. Die Iren waren die kräftigste politische Gruppe des Viertels, bevor die Juden aus Harlem zuwanderten, überfordert von der anwachsenden Nachbarschaft der Neger. Dann kamen die Neger hierher aus den Ghettos New Yorks, nach dem Zweiten Weltkrieg die Wellen der Puertorikaner, und die weißhäutigen Einwanderer, längst angepaßt an die vorgefundene Werteskala, gaben eine Straße nach der anderen auf. Allerdings nicht ganz. Aus einem solchen Einfamilienhaus kann der Besitzer zunächst einmal vier Wohnungen machen, je eine pro Stockwerk, und mit den erhöhten Mieteinnahmen die Einbuße an Grundstückswert wettmachen. Aus diesen kleinen Wohnungen kann der Hauswirt wiederum Einzelzimmer herstellen. Inzwischen hat er ein Vielfaches des alten Mietzinses. Da seine Mieter, wenn sie aus Harlem oder Brownsville kommen, auch solche Wohnbedingungen noch als eine Verbesserung ihres Lebens ansehen müssen und die spanisch sprechenden Einwohner zu einer Gegenwehr anfangs noch nicht fähig sind, ist es dem Hauswirt unbenommen, weiterhin Reparaturen zu verschleppen, an der Heizung zu sparen, auf einen Hauswart zu verzichten. Die Gesetze sind genau und drohen für alle solche Vernachlässigungen Strafgebühren an, aber Leute ohne Schulbildung und ausreichende Kenntnis der Sprache prallen am bürokratischen Apparat ab, und die Gerichte sind dem Slumwirt milde gesonnen, denn er vertritt die Begriffe von Erwerb und Eigentum.
    Erwerb und Eigentum stellen den Slum erst einmal her: die Häßlichkeit und Durchlässigkeit der Trennwände, die nicht erneuerten Fensterscheiben, die defekten Türsicherungen, die kaputten Briefkästen, den glitschigen verkrusteten Dreck schon im Korridor, die verrostete Küche, die Verseuchung der Zellen durch Ungeziefer und durch die Ratten, über die die Vertreter des Volkes sich im vorigen Sommer krumm lachen wollten. Mrs. Daphne Davis in Brownsville in Brooklyn kam im vorigen Sommer dazu, wie ihre Tochter mit einer Ratte spielte. Das Tier war so groß, daß das Kind sagte: Komm her, Katz. Katz, komm. Wenn es so weit ist, geben die Inspektoren der Stadt auf, ob sie nun wegen der Wasserleitungen oder wegen der Feuerausgänge kommen, und auch die Müllarbeiter begreifen sehr schnell. Hier wird der Abfall seltener abgeholt als in bürgerlichen Straßen und auf lässige Art, die Nachfegen nicht kennt. Aber es sind nicht Erwerb und

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