Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
N. B. C. ist der Krieg in Viet Nam verloren. Nach der Meinung des Nachrichtenmagazins Newsweek wird Präsident Johnson es mit dem Krieg in Viet Nam nicht schaffen.
Es sieht aus, als wollten sie die Č. S. S. R. in der Tat aufräumen. In Versammlungen der Partei ist geheim gewählt worden. Antonín Novotný wird aufgefordert, doch einmal die Bevölkerung selbst zu fragen, ob sie ihm denn vertrauen. In der Zeitung der Gewerkschaften veröffentlicht der Rektor der Karlsuniversität, Neurologe und Psychologe Dr. Starý, den Befund, daß viele Menschen in der Tschechoslowakei an Persönlichkeitsspaltung leiden, hervorgerufen durch Angst und ein System, das Menschen behandelt, als wären sie Zahnräder in einer Maschine. Am Grab des Außenministers Jan Masaryk, der vor zwanzig Jahren aus einem Fenster seines Amtssitzes sprang oder gestoßen wurde, durften sich 3000 Studenten zum Gedenktag versammeln. Der Präsident des Obersten Gerichtshofs bereitet sich darauf vor, den Mißbrauch der Justiz seit 1955 zu korrigieren. Es wird öffentlich ausgesprochen, daß Unschuldige im Gefängnis gehalten werden.
Hätte Cresspahl sein Kind bei den Paepckes gelassen, es wäre lange tot. Hätte er es zu Aggie Brüshaver geschickt, es wäre länger tot. Er hielt Jerichow, wegen der Nähe des Flugplatzes, für einen gefährlichen Platz. Daß er das Kind dahin holte, hatten Hilde Paepckes Briefe getan. Mit vielen Einzelheiten, langen Beschreibungen hatte sie ihm begreiflich machen wollen, daß Gesine in Podejuch nichts abging; er hatte daraus verstanden wie viel ihm abging von dem Kind. Vielleicht war ihm gleichgültig, daß sie umkommen könnte, solange er dabei war.
Eine Tochter zu erziehen, er traute es sich immer noch nicht zu, und Avenarius Kollmorgen sollte ihm raten zu einer Frau, die den Haushalt in Ordnung hielt und sich auf Mädchen verstand.
Avenarius riet ihm zu Oma Klug, Frieda Dade, Grete Selenbinder, Amalie Creutz. Louise Papenbrock in ihrem großen Haus am Markt hörte jeweils mit Genugtuung, daß Cresspahl immer wieder eine weggeschickt hatte, aber sie fühlte sich vor der ganzen Stadt beleidigt, weil Cresspahl das Kind ihr nicht gab, und Albert dazu nicht half.
Als erste aber meldete sich Käthe Klupsch. Cresspahl hatte mit dem Geld der Brandkasse nichts gebaut, er lebte ärmlich in seinem Haus und ging in abgerissenem Zeug durch die Stadt zum Bahnhof, wo Swensons Bus nach Jerichow Nord abfuhr; er galt Manchen in der Stadt als »Partie«, eben fünfzig Jahre alt und Besitzer nicht nur eines Grundstücks, auch einer Versicherungssumme, die das Gerücht um die Hunderttausend ansetzte. Cresspahl kannte die Klupsch kaum vom Sehen. Er blickte ohne Neugier auf die ältliche Jungfer, die sich eine betretene Geesche Helms als Anstandsdame mitgebracht hatte. Sie war eine mächtige, knochige Person, die ihre Haare zu einem pludrigen Nest aufgesteckt trug. Was immer für Kleider sie sich schneidern ließ, die machten sie am ganzen Leib kantig. In ihren Worten aber versuchte sie sich ganz klein zu machen. Es war ein Ton dicht am Jammern, die Worte hielten kaum Abstand. Das waren solche wie Schicksalsschlag und Prüfung und Barmherzigkeit, durchsetzt mit Anspielungen und Gerüchtchen. Cresspahl saß an seinem Tisch und sah taub aus, so suchte er nach einem Vorwand, die Betschwester loszuwerden. Geesche Helms hielt sich steif auf dem Sofa und wollte zeigen, daß sie ihre Mitwirkung bedauerte. Wenn Käthe Klupsch nicht den großen frommen Aufblick benutzte, sah sie immer mal um sich, auf den lange nicht gefegten Fußboden, auf Lisbeths offenen Sekretär, auf die drei Türen, als vermesse sie ihr künftiges Reich. Sie sprach nicht ohne Stolz von dem Dienstmädchen, das Cresspahl ihr halten sollte. Vielleicht war es die Stimme, derentwegen Keiner sie hatte nehmen mögen. Oder die Vornehmtuerei, die Verweise auf ihre Bildung und Christlichkeit. Cresspahl fand es nicht heraus. Dann kam Gesine und befreite ihn. Sie trat vom Hof herein, in einer achtlosen, in einer Paepckeschen Art, und fand sich so heftig überfallen von der Heiratskandidatin, daß sie sich losriß. - Du armes Kind! hatte Käthe Klupsch gesagt, dann aber in ihrem blinden Ärger das unmanierliche Betragen getadelt. Sie erzählte noch lange in der Stadt, daß sie es bei aller Barmherzigkeit nicht hätte aushalten können in einem so wenig kultivierten Haushalt; sie dachte aber oft an Cresspahls gelassenen Ausspruch: Arm sei das Kind nicht. Sollte man das nun religiös
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