Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
oder Präsident Johnson habe eine ältere Dame, offensichtlich eine Witwe, auf der Straße angehalten und sie dringend um die Herausgabe ihres Lammes ersucht; es geht auch nicht ohne eine halbe Umarmung ab, bei Linda nicht ohne sorgfältige Schläfenküsse, und Marie wurde angesprochen als das Kindermädchen, das seit Tagen mit Bangen erwartet wird und nun doch nicht eine alte Donnerdrohne ist sondern eine gebildete junge Dame, der man die Verantwortung für Pat und Pat aufatmend übergeben wolle. In der Küche. Das Mittagessen bereiten alle gemeinsam an dem barhohen Tisch. Brötchen mit Lachs und Schinken und Käse. Zwischen den Salatschüsseln Sherry und Whiskey aus Irland.
Gespräche. Über die Entwicklung der U. S. A. zum Polizeistaat. Jim hielt für gewiß, daß die Regierung für die kommenden Aufstände der Neger detention camps eingerichtet hat, Haftlager, in die die Bürger summarisch, schlicht nach der Hautfarbe, eingewiesen werden. Ob die O’Driscolls nach Irland zurückgehen sollten; es ist ja erst der Vater, der daher einwanderte. Ein struppiger Streit über Lindas Griechenland, wohin sie nicht zurückgehen können. Über eine Wahl zwischen Nixon, der ein undeutliches Kriegsprogramm vertrete, und Rockefeller, der kein Friedensprogramm vorweisen könne. Über Hans Magnus Enzensberger. Über Jims Vater. Über Familienpost aus Nauplion. Aus dem Garten der vorsichtige Lärm der Kinder.
Vielleicht haben wir die O’Driscolls doch zu lange nicht gesehen. In einer Pause Jims grüblerische Bemerkung: Was Himmler mit den Juden gemacht hat, haben wir im Effekt mit den Indianern angestellt.
Jetzt war es nicht mehr »Dschi-sain«, sondern die Deutsche, die versuchen sollte, Himmler zu erklären.
Die Verlegenheit hielt an, da mochte Jim noch so genußvoll aus seinem Büro erzählen, über seine körperlichen Zustände berichten. Vor zehn Tagen sei er auf der Dritten Avenue aus einer Bar gekommen und sei über ein Auto gefallen. Betrunkenheit scheidet aus, es waren doch nur fünf Gin Tonics gewesen. Eher war es wie eine Ohnmacht. Das Herz -? Wenn Jim über sich selbst spricht, hat es den Anschein, als sei ihm vieles an seiner Person ein Rätsel. Noch wenn er das Glas zum Munde führt, es ist, als ob ihm diese seine Handlung wunderlich erschiene.
Die Verlegenheit reichte aus dazu, daß aus dem Spaziergang nichts wurde. Es sollte nun ein Besuch in einem Filmclub werden. Über den kommunalen Charakter der Veranstaltung, das Spendensystem an Stelle von Eintrittsgeld wurde so ausführlich gesprochen, Mrs. Cresspahl hat nicht auf den Titel des Films geachtet. Ich habe nicht auf den Titel des Films geachtet.
Es war Nacht und Nebel, und noch einer.
Ich ging nach dem ersten aus dem Saal. Es war in Brooklyn.
Zwischen den brownstones war die Luft nebeldick. Hinter einem Fliegendrahtfenster redeten Kinder über die einzelne Passantin. Das Ende der 2. Straße schien ohne Hindernis in den Hafen zu laufen. Nebelhörner. Auf der Siebenten Avenue waren irische Bars besetzt, Delikatessenläden bedienten sonntägliche Kundschaft, Kinder neckten den Verkäufer mit Stemmzügen an der Vitrinentheke. Ergraute Alkoholiker standen hilflos an den Ecken.
Wir waren zu spät in den Film gekommen. Das Französische bestand in einer peinlichen Weise auf Eleganz. Die Bilder des Hungers, der Erniedrigung, Tote im elektrischen Zaun, das Kinderheim, die Gaskammer, die Verwertung der Reste durch die Industrie. Die nach dem Krieg gemachten Aufnahmen stark rötlich von den Ziegeln der Wände. Wieder das gefürchtete Bild mit der blanken breiten Pflugschar der Alliierten, die die Leichen ins Grab in die Grube schiebt und schaufelt. Die Leichenfelder. Die Verbrennstapel.
Das Kind aus der Wohnung der O’Driscolls abholen. »Hat dir der Film nicht gefallen?« Der Vorführraum war von einer Kirche gemietet. Im Licht sah man an einem queren Balken die Schmuckschrift: The Place Where We Meet To Seek The Highest Is Holy Ground. In der Dunkelheit war der Schweiß so schwer zu fühlen, als könne die Haut gleich nicht mehr atmen.
Es sind gute Freunde von mehreren Jahren. Sie sehen mich, und sie denken an die Verbrechen der Deutschen.
Ohne die Absicht der Kränkung. Es ist ihnen selbstverständlich, natürlich. So verhält es sich.
11. März, 1968 Montag
Die Zahl für die jährlichen Hilfeleistungen der Sowjetunion an Cuba ist höher als 150 000 000 Dollar. Mehr als Vierhunderttausend an jedem Tag.
Nach der Meinung der Fernsehstation
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