Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
nach einem Handtaschenräuber. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, uns behilflich zu sein, Sir?« Eine halbe Stunde auf der Wache am Kirchplatz. Erinnerst du dich an das blaue Schild?
– Ja. Und in Jerichow gab es keinen Wald.
– Bei Jerichow gab es den Gräfinnenwald, im Westen, genügend entfernt. Und nun war er dazu verurteilt, draußen zu leben, vor den Türen Englands. Outdoors.
– Das haben sie sich ausgedacht wie Freunde.
– Sentimentalen Wert hatte es zuverlässig.
– Verdammt! Ich glaub’s dir, Gesine.
– Und reicht es dir auch? Brauchst du nun noch eine Geschichte von einem abgeschossenen Piloten aus England, der sich nachts in Cresspahls Haus findet und für eine Weile in der Bodenkammer lebt, hinter einer Wand aus undurchdringlichem Ofenholz, bis Gesine ihn an der Hand nehmen kann und zu einer Adresse in Gneez führen, wieder ein Mann mit einem Kind -?
– Es ist genug für mich. Es reicht, Gesine.
– Und als die Royal Air Force in der Nacht vom 28. zum 29. März mit 230 Bombern Lübeck angriff und eher versehentlich einen Hangar in Jerichow Nord kaputtschmiß, saß Cresspahl weit weg im Südosten Mecklenburgs, auf einer Schleuse im Wald.
– Du treibst es wieder zu weit. Wieder stimmt alles zusammen. Du mit deinen Übertreibungen, Gesine!
– Das war ein Zufall, Marie. Es lohnte nicht, jemand wie Cresspahl wegzuschicken von einer Stelle, an der die R. A. F. demnächst Schiet aflådn wird. So wichtig war er nicht. Er war ein Stück Faden in einem Netz, nicht einmal ein Knoten. Er war ersetzbar. Das Netz war leicht zu flicken.
– Gesine: Wenn. Dann.
– Wenn es Verrat war, soll es ansehnlich gewesen sein?
– Nicht verkleinert.
– Verrat ist langweilig, Marie.
– Das brauch ich dir ja nicht zu glauben.
– Gestapo! - Gestapo! rufen die Studenten in Warschau der Miliz entgegen, die mit Knüppeln auf sie einhaut.
13. März, 1968 Mittwoch Purim
Seit die Sonne unten ist, lesen die Juden in ihren Synagogen und Tempeln die Geschichte von der Königin Esther, die sie vor dem persischen Tyrannen Haman gerettet hat. Mordechai erzählte ihr von den finsteren Machenschaften Hamans, des Ratgebers beim persischen König Ahasver, und so mußten die Juden nicht sterben an den Purim-, den Lostagen, die schon bestimmt waren. Wenn die Kinder die Geschichte hören, wirbeln sie mit Ratschen, damit der Lärm den Namen Haman verdeckt, und die Kinder bekommen Köstliches, das gibt es nur für diesen Tag.
Es ist ein Fest, an dem nicht nur Rebecca Ferwalter teilnimmt; auch Pamela Blumenroth kam an diesem Abend nicht in das Schwimmbad unter dem Hotel Marseille. So hatte Marie Zeit für eine ungenaue Aussöhnung mit ihrer Francine. Die Aussöhnung gilt nicht; sie mögen nicht allein sein, vermeiden einander zu berühren, sitzen weit auseinander. Francine hat sich ein allgemeines Betragen angenommen, nachlässig, unaufmerksam, als verlohnten wir die Anstrengung im Grunde doch nicht.
Dieses Land, das ich, -
Wie die Westdeutschen sagen, da lieg ich richtig, das haut hin, das hat meine Größe, Hand darauf das nehmen wir -
– in dem ich mir Gastrecht wünschte nach dem ersten Wiederkommen aus Europa, beim Anblick der breit ineinander gewischten Nachtfarben über Idlewild.
Es braucht nur Weißfisch zu sein, der für mich durch den Wolf gedreht wird.
Wollen Sie das für Gefilte Fish? (Geflüster.)
(Geflüster.) Das ist doch eine von den anderen. Sieht deutsch aus.
Sie wünschen es für Fischklöße. Sehr wohl, Madam. Raus hier.
– Gesine. Dschi-sain. Sprichst die ganze Nacht mit der Maschine.
– Es muß gleich ab neun geschrieben werden können, Marie. This is work.
– You needn’t be offended.
– Night.
Riverside Park steht auf dem Plan der Stadt, sagen die Bürger, und ich glaube es. Alle haben sie ein Geheimnis, und unter sich sagen sie: Schabbes-Park.
Damit ich erschrecke, immer noch einmal.
14. März 1968, Donnerstag
An der Universität Columbia haben gestern mehr als 3500 Studenten und 100 Lehrer gestreikt in Protest gegen die Einziehung zum Militärdienst und den Krieg in Viet Nam. Die meisten Lehrer ließen Vorlesungen ausfallen, damit die Studenten nicht schwänzen mußten. Ein verblüffter Mann aus der Verwaltung: Meine Güte, so viele mit Schlips und Jacke hab ich noch nie gesehen. Sind ja Herren.
Was fordern die Studenten in Warschau von ihrer Regierung? Achtung vor der Verfassung, besonders den Garantien der Versammlungs- und Redefreiheit; Freilassung aller
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