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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Listen mit positiven/negativen Punkten angelegt haben; vielleicht aber doch eine Landkarte. Die wirst du ändern müssen. Denn ich möchte leben können wie du: nicht mehr empfindlich, zwar aufmerksam für die Empfindlichkeit anderer. Unangreifbar, nicht mehr erreichbar für Kinderhoffnungen von vor zwanzig Jahren, die ich doch hätte verlernen müssen, wäre ich intelligent, oder zumindest nicht naiv. Daß bei mir nur übrig wäre, was du warten nennst.
    Und übertrieben hast du obendrein: Ich weiß nichts von einer Katze Schietmuul, ›und der andere hieß Peter‹. Marie schläft, und ich kann sie nicht fragen. Habe ich das in der Tat erzählt?
    Lieben D. E., vielleicht haben sie dich gar nicht in Stockholm versteckt, sondern schicken dir dies nach sonstwohin. Wenn es aber in Finnland ist, iß doch einmal in Kaskinen zu Abend und erzähl mir später von den Killainens, die eine Tochter hierher verloren haben.
    Die tschechoslowakische und sozialistische Sache, entgegen deinen Voraussagen, sie scheint zu laufen. Denn die Ostdeutschen haben angefangen, in der Č. S. S. R. ›gegenrevolutionäre Kräfte‹ zu erblicken, und sie warnen nachdrücklich vor ›spontaner Demokratisierung‹ und Forderungen nach ›sozialpolitischen Veränderungen‹. Laß mich das Ende davon sehen.
    Mit dir leben; auch auf den Scandinavian Airlines? Daß du zurückkämst nicht zu meiner Wohnung, sondern in ›unsere‹?
    Und wenn du zurückkommst, wünsche ich mir einen Vortrag über den defensiven Charakter deines Berufs, den siebenten. Neulich habe ich gelesen von simulierten Flugbewegungen, die dem immerhin noch nicht feindlichen Radar Grenzverletzungen vortäuschen, so daß Einer aus dem aufgeschreckten Funkverkehr etwas lernen könnte über Frequenzen. Ich weiß, daß du die Nähe der Person zu den Kriegsmaschinen für nur psychologisch bedeutsam hältst, ich kenne auch meinen Platz in diesem System; dennoch ist mir eine Distanz lieber, und sei sie eben optisch.
    Wenn sich twei Deiw schellen, so krigt ’n ihrlich Minsch sin Kau werrer.
    Dieser Brief ist wie einer von Hein Fink, der war so eigen, der wollte nicht an den Galgen.
    D. E. Ich mein es wie Marie.
    Sincerely yours.«

15. März, 1968 Freitag
    Der stellvertretende Verteidigungsminister der Č. S. S. R., ein Generaloberst Janko, hat sich durch Erschießen das Leben genommen, nach der einen Erzählung: in dem Dienstwagen, der ihn abliefern sollte zu einem Verhör über seine Beteiligung an der Militärverschwörung zugunsten Antonín Novotnýs; nach der anderen: in seiner Wohnung, als er wußte, daß das Kabinett über seinen Anteil gesprochen hatte.
    In Bentre, jener Stadt im Mekong-Delta, die während der Viet Cong-Offensive von den Amerikanern zerstört wurde, »um sie zu retten«, hat die Südregierung noch keinen Ziegel, keinen Sack Zement für den Wiederaufbau abgeliefert. 2500 Familien sind obdachlos. 456 Zivilisten sind getötet worden, und 200 Anträge auf Todeserklärungen werden noch geprüft.
    Cresspahl kam am Sonntagabend von Wendisch Burg zurück nach Jerichow, pünktlich genug für das Treffen im Strandhotel von Rande; er wartete da anderthalb Stunden, doppelt so lange als abgemacht und erlaubt. Danach glaubte er, sein Kurier habe eben doch nicht in Berlin gewohnt, sondern die ganze Zeit in Lübeck gesessen mit seinem Funkgerät, bis ihn der englische Angriff da erwischte. Der Mann war ihm so undeutlich geblieben, er bekam ihn nicht einmal als Toten zusammen. Bei seinem abweisenden Benehmen, dem kurz angebundenen Ton eines Gebildeten, seinem unentwegt abschweifenden Blick hatte Cresspahl manchmal nicht glauben mögen, daß der alle Zahlen und Namen aufnahm und behielt. Der Anblick des Parteiabzeichens an seinem Revers war manchmal schlüssig erschienen, zu anderen Gelegenheiten nicht geheuer. In Rande schienen ihn Leute zu kennen, die sagten Fritz zu ihm. Fritz klang zu jungenhaft, zu locker für den steifen Fünfziger, für Cresspahl obendrein zu vertraulich, aber mit Fritz und Heinrich hatte es ja abgehen müssen. Wenn andere an den Tisch gekommen waren, hatte der längst einen Vortrag über Vögel oder Wild im Gange; vielleicht war er ein Lehrer gewesen. Cresspahl hätte ihn einmal fragen mögen, aus welchem Grund denn er für die Engländer arbeitete; gegen solche Erörterungen hatte der sich mit Förmlichkeit, geradezu Hochmut geschützt.
    Am nächsten Tag, 30. April 1942, wurden die polnischen Kriegsgefangenen aus der Umgebung von Jerichow auf dem

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