Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Studenten, die seit Beginn der Demonstrationen am Freitag festgenommen wurden; Bestrafung der Personen, die die Polizei auf das exterritoriale Gelände der Universität riefen; Garantien gegen weitere Strafverfolgung …
»D. E., mit dir leben.
Mich aushalten.
Du wolltest nur abermals die positive Form vermeiden; der negative Ausdruck gibt etwas zu.
Auf der Schule in Gneez gab es neben den unvergeßlichen auch einen dummen Schnack, betreffend die Partnerwahl: Wenn du sein (ihr) Gesicht en face aushältst, nicht aber im Profil, laß es sein. Solche Ratschläge, unter Freundinnen (Freunden) weitergegeben, auch von oberen Klassen der Schule in die unteren; Verhaltensmaßregeln vor einer Liebschaft für einen Sommer. Ich habe es versucht, gelegentlich; tatsächlich merkte ich einen kleinen flirrenden Schwindel, wenn das Profil anderes meldete, als das Gesicht angekündigt hatte. Dummer Schnack; ist es viel klüger, daß du mich aushalten könntest?
Wenn du das Gesicht nimmst, rundum besehen; das Gesicht bin ich nicht.
Du siehst einen Raum, normal umgrenzt oder aufgeteilt durch Stirn Augen Mund Nase; darin schon Fortsetzungen Cresspahlscher oder Papenbrockscher Plastik und Knochenform, Nachrichten von Urgroßeltern, Reste von deren Möglichkeiten, die ich nicht kenne, die du nicht kennst. Der Anblick mag merkbar sein, doch nicht zum Verstehen. Wenn du deinen Blick vorsichtig wegnimmst, auf eine betroffene Art beiseite nimmst und willst lediglich versonnen erscheinen: ich begreife ungefähr was du denkst. Es kommt aus der Situation, mag sein auch aus der Geschichte deiner Urteile; was immer das Gesicht ausdrückt, dich nicht ganz. Nicht dich. Nicht mich.
Einmaligkeit wirst du nicht für lobenswert ansehen; die meist einmalige Zusammensicht selten einmaliger Formen eines Gesichts flüstert dem Betrachter Individualität ein. Er glaubt Beziehungen angedeutet zu sehen. Gesichter werden beschrieben als Ausdrucksfläche. Da täusche ich dich, D. E.
Voraussetzen müßtest du fehlerlos schaltende Kommunikationen zwischen Großhirnelektrik und Gesichtsmuskulatur; hier bist du der Professor für Chemie, schreib mir die richtigen Worte hin. Weiterhin: daß nervöse Impulse mimisch zuverlässiger erscheinen als in elektrischen Messungen, indem sie sich abbilden in mehr zugehörigem Material, dem so überlegen wie das ihnen gefügig ist, fast schöpferisch wo die eingefahrenen Bewegungen variiert werden (zumindest in der Intensität). In einem literarischen Buch kann es heißen: ein nachdrücklicheres Grinsen. Das meint doch ein mehr gezeigtes Grinsen. Wenn aber ich die Absicht merke, bin ich herausgefallen aus dem Ausdruck von Natur wegen; ich biete gar nicht mehr mich an, sondern die Grimasse, für die ich dann gelte.
Das ist nicht übertrieben. Ich mach das jeden Morgen in der Bank, das Begrüßungslächeln, das amerikanische, das ich nicht kann.
Solltest du mal sehen; vielleicht könntest du es nicht aushalten.
Jeder scheint mündig sein Gesicht zu benutzen. Heißt das mehr als es in der Gewalt haben?
Die Reaktionen eines Gesichts auf Anlässe scheinen wenn nicht verständlich so doch kenntlich mit der Unterstellung: diese Erfahrungen seien den eigenen ähnlich, vergleichbar, wenn nicht die selben doch die gleichen. Der Betrachter identifiziert sich mit dem Allgemeinen, indem er das Allgemeine wahrnimmt.
Du brauchst nicht zu erschrecken; bis hierher habe ich eine halbe Stunde gebraucht.
D. E.: Der ein mit allen diesen Möglichkeiten fremdes Gesicht von nun an täglich sehen möchte am Morgen (mit ihm leben): meint er das darin angedeutete Bewußtsein, oder was er als das ihm erkennbare System des Bewußtseins zurechtgedacht hat? Sein Gegenüber wohl, aber das Gegenüber selbst?
Wie wäre das: wenn hinter einem zufälligen Treffpunkt allgemeiner natürlicher Formen recht eigentlich verborgen wäre was das Bewußtsein denkt und ist? Wenn es nun noch zeitgenössisch oder biographisch kultivierte Modelle, auch Bilderwartungen zusammen mit dem jeweiligen Ausfallen der Mimik für Zwecke der Tarnung benutzte?
(Mit bewußter Absicht bin ich bei dir, gegen dich auf Tarnung nicht aus.)
Der Betrachter findet ein Aushaltbares doch nicht an der Vorstellung eines Bewußtseins; ihm gefällt der Anblick, er hält ihn für zweckfrei, hält ihn für ›schön‹. Und honoriert den Träger des Gesichts: hält Besitz für Verdienst.
Es geht mir wie dir; nur zweifle ich, was da geht.
Du magst für mich nicht eine von deinen
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