Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
sonderbar überfüllt, und von den Bahnpolizisten waren einige inzwischen zum Schreien zu heiser. Die Bäume im Riverside Park waren jetzt von weißem Zeug erwürgt.
Als die deutschen Truppen im März 1939 Prag besetzten, hingen Schneeflocken in der Luft.
Cresspahl hatte reichlich recht bekommen mit seinem Krieg. Im gleichen Jahr überfielen die Deutschen Polen. Im nächsten Jahr nahmen sie sich Dänemark, Norwegen, Belgien, die Niederlande, Frankreich. Im August 1940 versuchten sie England kaputtzuhauen.
Das war eine von den Sorgen Cresspahls. Nach England würde ein Deutscher nie mehr dürfen.
1941 kamen Bulgarien, Griechenland, Jugoslawien an die Reihe. Manchmal hatte er es einen Tag, gelegentlich Wochen vorher gewußt. Er war aber nicht sicher, ob es die in London denn erreichte.
Inzwischen verloren die Staaten Litauen, Lettland, Estland ihre Selbständigkeit. Die Sowjetunion war in der Slowakei durch eine Botschaft vertreten. Ostpolen war ein Bonus gewesen. Finnland verursachte etwas mehr Kosten. Am 20. August 1940 wurde Leo Trotzki ermordet. Und die Sowjetunion schwieg weiter.
Am 22. Juni 1941 überfielen die Deutschen die Sowjetunion, und sie schwieg weiter nicht.
Papenbrock: Das ist unser Ende.
Meta Wulff: In solchen Zeiten, Cresspahl. Wollen wir uns nicht wieder vertragen?
Bürgermeister Tamms, Juni 1941: Die strahlende Flagge des Nationalsozialismus … Februar 1942: Das hätte er nu nich noch riskieren müssen.
Aus Papenbrocks Kalender, Februar und März 1942: Tagung des Pferdeversicherungsvereins Rehna. Versammlung der Bezirksbauernschaft im Hotel Großherzog zu Gneez. Heldengedenkfeier am Ehrenmal Schönberg. Mitgliederversammlung des Viehversicherungsvereins. Stutbuchaufnahme für 1942 auf dem Schützenplatz in Gneez.
Aus Friedrich Jansens Tagebuch: Todesstrafe für rostocker Volksschädling. Bei der Wintersachensammlung kennen wir nichts, und wenn es ein Paar Handschuhe sind! Kampfgeschwader Lützow, was ein Film. Aber mit dem Gaufilmwagen, das ist nichts. Jerichow braucht ein Kino! In Leningrad hungern sie. In Lemberg benutzen die Kommunisten Büstenhalter als Ohrenschützer. Java kapituliert! Malta im Bombenhagel. Litwinows Ruf nach Zweiter Front verhallt in London!
Käthe Klupschs, Frieda Klütz’, Else Pienagels Beweise für den unausbleiblichen Sieg: Bananen sind eine Erfindung des Feindes; Bananen verursachen Kinderlähmung. Wie kann Deutschland am Ende sein, wenn für die Reichsstraßensammlung noch eigens Vögel hergestellt werden: Amseln, Gimpel, Buchfinken, Kohlmeisen, Pirole, Rotkehlchen; muß ich auch ein von habm. Die Volksgasmasken kann man kaufen bei der N. S. V., aber man muß nicht; wenn Gefahr wäre, müßte einer das. Am 9. ist die Schlußziehung der 6. Deutschen Reichslotterie; wenn ich doch diesmal gewänne.
Tamms’ Amtliche Bekanntmachungen: Der Betrieb von Badeöfen, Durchlauferhitzern, Kühlschränken, Gasheizungen, Bratröhren ist wegen Überlastung oder Einfrierens der Transportwege verboten. Zu der Lebensmittelzuteilung in der 35. Kartenperiode gebe ich folgende Senkungen bekannt: damit erhalten Kinder zwischen 6 und 10 Jahren ab 6. 4. 1942 je Woche statt 400 Gramm Fleisch 350 Gramm, an Fett unverändert 266 Gramm. Die Verdunkelung gilt zwischen 20 und 7 Uhr. Ich weise nochmals darauf hin: Wer zum Vergnügen reist, wird bestraft, in schweren Fällen mit dem K. Z.!
Allgemeine Sorge in Jerichow waren die Polen. Auf Gut Schwenzin hatte einer dem Inspektor das Lohnbuch ins Gesicht geworfen, ihn angeschrien, mit der Forke geschlagen. In Granzlin hatte einer der Bäuerin eine Kanne heißen Kaffee an den Kopf geworfen. Es beruhigte nicht, daß sie zuverlässig zum Tode verurteilt wurden; hatte doch irgend etwas ihnen Mut gemacht, sich zu wehren. Was das für eine Sache war, wurde nicht ausgesprochen. Nun aber hatte der Pole Henrik Grudinski auf der Papierfabrik Wismar am 19. März den Kriminalsekretär Engelhardt eine Treppe hinuntergeworfen und wurde später in der Nähe von Proseken gesehen. Da muß er doch über das Eis der Wismarschen Bucht gegangen sein und ist durch Jerichow gekommen, stell dir vor durch meinen Hinterhof! Cresspahl hatte es wieder einmal für sich am besten eingerichtet, der hatte Franzosen im Haus, und eine Wache obendrein.
Cresspahls Tochter hatte wenig Sorgen. Cresspahl hatte am Tag der Luftwaffe in Jerichow Nord einen Briefbeschwerer aus feindlichen Flugzeugteilen beiseitegebracht, bevor er zusammen mit anderer Beute versteigert wurde;
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