Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Flugplatz zusammengezogen, um die Trümmer des Hangars aufzuräumen. Die Füllungen der Wände waren sämtlich herausgefallen, auch das Dach; aber der stählerne Rahmen stand noch, wenn auch an einem Ende auf verbogenen, uneben abgebrochenen Stelzen, wie ein Hund, der ein verletztes Bein hochhält. Die Luftmine hatte in weitem Umkreis Fensterscheiben eingedrückt, und Cresspahl half Freese beim Verglasen. Freeses Vorräte reichten nicht für alle Fenster, und er war knurrig, daß er Dachpappe einsetzen mußte. Über das, was in der Nacht zum Sonntag zwischen viertel zwölf und halb vier mit Lübeck passiert war, wurde unter den Handwerkern kaum gesprochen; Lübeck war wenige Kilometer weg, und der versehentliche Abwurf hätte ebenso leicht Jerichow treffen können. In der Kantine erzählte Gesine aus der Schule, auf Befragen Freeses. Hauptlehrer Stoffregen hatte es als abgefeimte Tücke der Engländer hingestellt, daß sie für den Angriff eine voll ausgeleuchtete Vollmondnacht genommen hatten. - Was die Kinder heutzutage nicht lernen -! sagte Freese, bewegte den Kopf geniert, sah Cresspahl auffordernd an. Aber der hatte den Kopf über dem Teller, wie das Kind längst.
Am Abend war Bürgermeister Tamms bei Cresspahl. Jansen hatte das Amt »wegen Arbeitsüberlastung« niedergelegt, die Ziegelei hatte er an einen lübecker Fabrikanten abgegeben, bloß um seine Schulden bezahlen zu können, und die Ortsgruppenleitung war nun untergebracht in Oskar Tannebaums Laden. Ed. Tamms hatte nach drei Wochen Jansens Hinterlassenschaft im Rathaus aufgeräumt, danach erwarb er sich Willkommen auch aus eigenem Verdienst. Es gab auf dem Rathaus nun keine Gefälligkeiten mehr, die Gutscheine wurden nach dem Bedürfnis ausgegeben, und unter Tamms gelang es keinem mehr, eine Reparatur am Haus umzubauen zu einem neuen Haus. Seit Ete Helms einen Bürgermeister Tamms in seinem Rücken wußte, war ihm mit einer Zugehörigkeit zur Partei weniger bequem Angst zu machen, und wenn einer eine Strafgebühr nicht bezahlte, faßte Tamms bereitwillig mit einer Anzeige nach. Das mochte wehtun; das war nach der alten Ordnung. Die große Hakenkreuzfahne auf dem Rathaus war geblieben, Tamms nahm die Hand weit hoch, wenn er jemanden grüßte; Tamms galt als »gläubiger Nationalsozialist«, sprach aber selten davon. Ende Dreißig, Studium der Nationalökonomie ohne Abschluß, verheiratet, drei Kinder. Im Gespräch ruhig, nicht langsam, ohne Ausflüchte. Manche störte es, daß er sich nicht die Zeit ließ für die mecklenburgischen Umständlichkeiten; es galt ihnen doch, daß er nicht nur seine Zeit sparte, auch ihre. Er war aus Mecklenburg, aus Olden Mochum, so genannt wegen der ehemals zahlreichen Juden in Alt Strelitz. Solche Witze waren bei Tamms nicht angängig; er sah den Sprecher fremd an, so daß der sich beeilen mußte, wollte er noch mit der eigenen Sache vorkommen. Tamms war imstande, einem Besucher die Tür aufzuhalten.
An diesem Tag hatte Tamms in Jerichow den ungenutzten Wohnraum aufgenommen, höflich und unerbittlich, ohne Gerede von Volksgemeinschaft, unempfindlich gegen Klagen. Die Gegenwehr war halbherzig, nachdem er weder die Papenbrocks noch Avenarius Kollmorgen geschont hatte, obwohl er sich mit denen doch zuerst ins Benehmen gesetzt hatte und so verblieben war. Louise Papenbrock hatte nicht gleich zehn Zimmer fertig machen wollen für ganz unbekannte Leute; Tamms hatte gesagt: Der Führer erwartet von uns -; das wäre bei Jansen als Drohung ausgefallen. Tamms stellte da etwas fest, und da Louise ihn insgeheim für einen Herrn hielt, sagte sie ihm noch die Herrichtung ihrer Waschküche als Verpflegungsstation zu, wegen des öffentlichen Ruhms für die Papenbrocksche Liebestätigkeit, und Tamms bedankte sich genau wie sie gewünscht hatte: überrascht, ein wenig gerührt, doch für etwas Selbstverständliches.
Tamms kam hinten um Cresspahls Haus und betraf ihn in der Küche nicht allein mit dem Kind, sondern in der Gesellschaft von zwei der französischen Gefangenen, die ihre kalte Verpflegung lieber nicht auf ihren Bettgestellen hockend verzehren wollten. Es war bei Strafen verboten, mit Kriegsgefangenen an einem Tisch zu essen; Tamms erwähnte den Verstoß nicht, gab zwar den Franzosen nicht die Hand, bot ihnen jedoch die Tageszeit in ihrer Sprache. Das Haus war voll belegt, und Tamms gab sich mit der Auskunft zufrieden, obwohl Cresspahl eine Besichtigung anbot. Inzwischen waren Gefangene auch in Lisbeths Schlafzimmer
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