Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
F. Kennedy durch den glatten Hafen von New York. Die Schiffe sehen an vielen Piers still aus, obwohl doch ein Stauerstreik von fast elf Tagen aufgearbeitet werden muß. Vom Atlantik kommen kühle Schwünge Luft herein, aber Marie will doch im Wind stehen, schaukelt überlegsam auf ihren Ellenbogen an der Reling. Wenn sie dem Rathaus von Staten Island entgegensieht, scheint sie auf das peinlichste zu prüfen, ob die Veränderungen der Küstensilhouette ihren gewohnten Erwartungen gleichkommen. Dennoch fragt sie nach einer abgetanen Zeit vor einem Vierteljahrhundert, nach einem Kind.
– Wie warst du als Kind, Gesine?
Beim Warten im Fährhafen auf der Manhattanseite schienen die kleinen Glaskreise in den Türen Löcher in einem Gefängnis, als dahinter die Gesichter der ankommenden Fahrgäste erschienen. Die Kinderängste überleben zuverlässig.
– Wieso warst du ein Kind, nicht für die Schule geeignet! sagt sie empört, auch ein wenig gestört. Nun wird sie weniger gut angeben können damit, ihre Mutter habe kein großes Geld ererbt und könne doch für unser Leben sorgen bloß mit dem Verkauf von Gelerntem.
– Weil ich im Gustaf Adolf-Lyzeum von Gneez eine von den Neuen war in der fünften Klasse, und aus dem krähwinkligen Jerichow obendrein, mußte ich auf dem Schulflur stehen und bei Annäherung des Feindes mit dem Ruf »Acht Pfund!« in die Klasse laufen, damit beim Eintreten des Lehrers die Schüler vollzählig standen mit hochgerecktem Arm und pünktlich schreien konnten Heil und Hitler. Der Brauch war mir neu, hätte ausreichen sollen zu Aufregung, wäre er mir nur begreiflich gewesen. So stand ich verträumt neben der offenen Tür und die Lehrerin führte mich mit schmerzhaftem Schultergriff in die Klasse, in der sie noch mit den Schwämmen warfen oder den Lehrerstuhl auf der Sitzfläche mit einem Fragezeichen bemalten. Kriegte ich Dresche.
– Hat es geholfen?
– Dir ist also recht, daß sie deiner Mutter die Schürze über den Kopf spannten und sie erbärmlich verhauten? Du sollst mich achten, hörst du!
– Senge hab ich auch in der Schule bezogen; ohne daß du es mir angekündigt hättest. Und da soll ich dich obendrein lieben! Und achten.
– Es half zu Angst, aber die Zuverlässigkeit blieb aus. Dann bekam eine andere den Posten. Sie hatten mich als zu doof aufgegeben.
– Ja dazu! Aber lernen konntest du, wie eine Eins.
– Wohl, den Lebenslauf von Adolf Hitler. Den haben sie uns so ins Gedächtnis gerammt, er ließ sich herunterleiern mit taubem Hirn. Aber wenn ich etwas zu denken lernen sollte, Bruchrechnen -
– Gesine, wir leben von deinen Kenntnissen im Rechnen, von Bruchrechnen ganz zu schweigen!
– Marie, an der Stirnwand des Klassenraums in Jerichow hatte der Spruch gestanden von den deutschen Jungen, die so hart sein sollten wie ein Erzeugnis der Firma Krupp, zäh wie Leder und noch etwas. Schon das verstand ich nicht, weil ich Leder kannte, das war nicht zäh,»riß aus wie Schafsleder«, und ich mußte mich damit trösten, daß ich eben kein Junge war. In Gneez hatten sie in fetter brauner Fraktur an die Klassenwand malen lassen:
Ihr seid das Deutschland der Zukunft
und wir wollen daher
daß ihr so seid
wie dieses Deutschland der Zukunft
einst sein soll und muß. A. H.
Auf Mittelachse geordnet.
– Ja wie denn nun?
– Siehst du. Wenn du das stundenlang vor dir hast, denkst du darüber nach und hörst nicht auf das Bruchrechnen. Da halfen Ohrfeigen nicht. Eine bekam ich, weil ich wieder einmal das Rechenarbeitsheft vergessen hatte. Sie kränkt mich heute noch, und, und ich will sie Julie Westphal nicht vergeben. Sie hat nicht verstanden, es mir zu erklären: warum keine Hefte vergessen werden dürfen. Ich hatte bloß Angst vor ihr, nicht Achtung. Das lag nicht daran, daß sie nicht durch Verdienst, sondern wegen des Lehrermangels von Jerichow nach Gneez gekommen war. Cresspahl ohrfeigte mich nie, nicht einmal für Vergessenes. Also verbrachte ich die Stunden damit, daß ich den kleinen Finger in die Füllfederkappe bohrte und ab und zu genoß von dem trockenen Tintengeruch. Wir mußten damals oft in die Aula, die Hände hochhalten und die beiden Nationalhymnen singen; mir war recht daran, daß wiederum Schulzeit verging. Wenn eine Zettelarbeit geschrieben wurde, gab ich von der Katze nicht an, was die Biologielehrerin über felix communis mitgeteilt hatte, sondern was ich von den Cresspahlschen Katzen wußte: wie sie aussahen, wieviel Schnurrbarthaare
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