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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Kind.

18. April, 1968 Donnerstag
    Die New York Times gibt sich großzügig gegen John Vliet Lindsay und spricht nur nebenbei aus, daß er die akustische Reklame in den Untergrundbahnen der Stadt abgelehnt hat als »Einbruch in die Privatsphäre« der Fahrgäste. Die Privatsphäre ist das wilde entschlossene Schweigen der eingesperrten Fahrenden, mit sich allein, in sich zurückgetrieben.
    In der Č. S. S. R. ist es wiederum so, daß die Parteizeitung berichten kann, es seien in den örtlichen Organisationen 31 vom Hundert für einen außerordentlichen Parteikongreß, damit ein neues Zentralkomitee gewählt wird, eins ohne die letzten Stalinisten. Nach den Statuten genügen 30 vom Hundert. Dann kommt der Herausgeber des Rudé Právo von einer Sitzung des Präsidiums und läßt die Sache aus der zweiten Ausgabe nehmen, als sei sie nicht wahr. Im Rundfunk und Fernsehen hinwiederum darf sie als Wahrheit auftreten.
    Im letzten Jahr gab es in New York 746 Morde, die meisten an Wochenenden, die wenigsten am Mittwoch. Die häufigsten Gründe sind Streit unter Liebesleuten und beleidigende Bemerkungen. Immer höflich, ja!
    Wenn de Rosny nicht will, gibt es den Donnerstagnachmittag nicht, Professor Kreslil entgeht ein Scheck, und die Angestellte Cresspahl wird zu einem Baseballspiel ins Shea Stadion eingeladen. Auch ist das Kind der Angestellten angefordert. De Rosny wird beweisen, daß er in Damenbegleitung gesehen wurde.
    Die Einladung ist dienstlich, denn auf Long Island, halb auf der Autobahn Grand Central Parkway erklärt de Rosny seinem Fahrer, daß er während des Spiels einen Gott namens Rutherford aus dem Hotel Regency holen und zu einer Konferenz ins Stadion bringen soll. Arthur schluckt seine Vorfreude hart herunter und meldet leutselig: Was tu ich nicht alles für Sie Häuptling. Bittere Laune kann de Rosny in seiner Nähe nicht ertragen, es könnte seiner eigenen schaden, und er sagt: Ich geb dir dafür im Juni mal die Loge, ganz für dich allein, was Arthur? Arthur weiß, daß er jetzt befreit aufatmen muß und sagen, als wär aber nichts: Das ist ganz in Ordnung.
    De Rosny vertreibt sich die Zeit, indem er mit Marie ein Gespräch zwischen Lehrautomat und Schüler erfindet. Offenbar will er Xerox doch nicht kaufen, sondern befreundet sich mit Computern. Während der Wagen auffährt vor der großen dreistufigen Schüssel des Stadions, aus der ein Achtel herausgesägt ist, beendet de Rosny das Spiel in der Rolle des Automaten, auch in der Sprechweise automatisiert, langsam: You did re-al good.
    Und Marie sagt, wieder in der Rolle der umworbenen jungen Dame, nicht nur in der des Schulkindes: You mean
well,
don’t you? und beide sind einig in dem Stolz, einen Fehler gemeinsam begangen und berichtigt zu haben. Er läßt Marie als erste hinter sich gehen.
    Die Platzanweiser erweisen ihm die königlichen Ehren und ziehen seinetwegen noch einmal die Lappen aus der Gesäßtasche, um die gelben Logensitze gründlicher abzuwischen. Die Abteile sind mit plastenen Schildern, darauf den Namen der Abonnenten, gekennzeichnet. Hier ist zu lesen, wer als einziger noch über de Rosny herrscht, der Präsident der Bank selbst, und de Rosny macht es seinen Gästen mit respektlosen, vergnügten Gesten bequem. Zweimal müssen sie die Plätze wechseln, damit sie dann auch glauben, es sei genug Mühe auf ihre Laune gewandt, und ihm den Spaß halten helfen.
    Die Fahne hängt immer noch halbmast.
    In den mächtigen Rängen, oben hellgrün, darunter bläulich, darunter orange gestrichen, betreiben die Zuschauer festliche Aufregung, johlen, tuten. Fünfzigtausend wollen, daß Freude ist.
    Endlich wird der Text der Nationalhymne auf die Anzeigetafel projiziert. Begeistertes Geschrei begrüßt ihr Ende. Diese Hymne endet mit einem Fragezeichen.
    De Rosny gibt sich genußvollen Erklärungen hin: So ein Ball hat eine Geschwindigkeit von 95 Meilen in der Stunde. Wenn du getroffen wirst, kannst du nicht klagen, Marie! Lies die Eintrittskarte.
    Die meisten Spieler bewegen sich wie mit vollen Hosen. Manchmal fällt einer wie ein wildgewordener Panzer über einen Fänger her. Bei einer Verletzung wechselt die Musik unverzüglich zu besänftigenden Tönen.
    – Ein Spiel der Gentlemen! ohne Gewalttätigkeiten! ruft de Rosny begeistert aus. Vielleicht hat das von seinem Platz anders ausgesehen.
    Alle zwei Minuten steigen Flugzeuge von La Guardia auf, donnernd. Wenn es still wird, brüllen die Verkäufer los: Erdnüsse hier! Bier hier!
    De Rosny

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