Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
umarmen wollte, als sei sie nicht seine Schwester. Aber Lisbeth war ja eigen geworden, was Umarmungen anging.
7. Januar, 1968 Sonntag
Die Tunnelpassage unter Henry Hudsons Autobahn war so ausgestopft mit blitzendem Licht, Marie erwartete nun doch, der Fluß sei zu einem glatten Spiegel für die Sonne gefroren. Aber unter dem wolkenlos ausgeleuchteten Himmel war der ungeheuerliche Strom kräftig unterwegs zum Atlantik, glitzernd in unzähligen Eisschollen, nicht mehr Hudsons Fluß, so vergiftet von den Abwässern der Industrie, daß die Fische schon hoch im Norden sterben; die Erinnerung an einen Fluß. Über die tiefe Ebene, die er ins Land gerissen hat, sauste ein Wind, schneller als ein Auto in bewohnten Siedlungen es je dürfte, und die zehn Grad Celsius unter Null saßen so tief im Geländer der Promenade, das Eisen hielt Fingerspitzen gleich fest. Marie stapfte vergnügt voran durch den rutschigen, mehrmals aufgetauten und gefrorenen Schnee, der Sonne entgegen, die ungefähr über Hoboken heiß tat. Sie sah die entgegenkommenden Spaziergänger so fröhlich an, als hätte sie nicht übel Lust, ihnen etwas abzugeben von dem Spaß, den sie mit sich umhertrug. Wenn sie sprach, ließ der Wind manchmal kleine Wolken von ihrem Atem stehen, bevor die Kälte sie wegschnappte. - Hoboken! sagte sie, und riß richtig die Nase hoch, als wolle sie den Bären doch ansehen, den sie sich dahin nicht würde binden lassen.
– Ein Fuhrgeschäft in Hoboken, vier Arbeiter zu bezahlen, und was nicht? Stadtrat doch mindestens! sagte sie, im Spiel entrüstet, so belustigt war sie von der Vorstellung, Robert Papenbrock könne in unserer Gegend, nur auf der anderen Seite des Hudson, zu bürgerlichen Einkünften und Ehren gekommen sein. Sie spricht von »deinem Onkel«, als sei sie da gefeit gegen Verwandtschaft.
– In den zwanziger Jahren legten die Überseedampfer noch in Hoboken an, Marie. Zu fahren war da etwas.
– Das gebe ich dir ja zu. Schlecht ausgedacht ist es nicht.
– Was kommt dir daran ausgedacht vor?
– Weil seine Ausrede so gut sitzt, wo sie saß.
– Dennoch möglich.
– So möglich wie das Eßgeschäft »in den neunziger Straßen am Broadway«. 1930! In the Depression! Wo er Glück hatte, wenn die schweriner Bekanntschaft ihn die Teller waschen ließ, wenn er nicht vorher die Reste abstreifen mußte, und nämlich mit der Hand!
– Du glaubst ihm nicht, wenn du ihn nur von ferne siehst. Du hältst nichts von ihm.
– So hast du erzählt.
– Ich wollte dir nur erklären wie es war. Wie es gewesen sein könnte.
– Du warst anzuhören, als ekeltest du dich vor ihm.
– Cresspahl, wohl.
– Und auf deines Vaters Seite bist du.
– Nein. Wenn ich ihn mal begreife, kommt es hoch.
– Zweiter Beweis, Mrs. Cresspahl: Mrs. Cresspahl ist traurig, daß ihre ganze Familie sich eingelassen hat mit den Leuten, die damals in Mecklenburg an der Macht waren (und in Deutschland, ich weiß). Bei denen hat jener »Robert Papenbrock«, oder dessen Mörder, nicht einmal angefangen mit kleiner Arbeit, groß eingestiegen ist er!
– Du nimmst nicht einmal für wahr, daß er es ist?
– Soll ich das nicht glauben?
– Es ist nur gesagt, wie es damals aussah.
– Warum nicht, wie es war?
– Weil es erst Jahre später herauskam, ob seine Geschichte stimmte. Soll ich in der Zeit durcheinander erzählen?
– Nein. Obwohl ich jenes Jerichow nicht nach Jahren sortiere.
– Sondern.
– Nach deinen Leuten. Was ich von ihnen weiß. Was ich von ihnen halten soll.
– O. K. Fang an.
– O. K. Früher nicht, aber inzwischen ist mir Albert Papenbrock fast der liebste. Erst einmal, er ist mein Urgroßvater, etwas Seltenes zu kennen, selten in meiner Klasse. Vielleicht, weil ich Mitleid mit ihm habe. Die Nazis lassen ihn nicht mehr König sein, nicht in der Stadt und nicht im eigenen Haus. Laß ihn angeben damit, daß er seine Familie prächtig versorgt; es ist ja auch dabei, daß er sie versorgen will. Das ist ein anderes Gefühl, und nicht angenehm zu verlieren.
– Weißt du das von deinem Umgang mit Francine? »Die vorbildliche Art, in der die Schülerin Cresspahl einer schwarzen Klassenkameradin, benachteiligt durch Rasse und Familienverhältnisse, unter die Arme greift«?
– Ich gebe damit nicht an; thank you for the apologies. Immerhin erkenne ich Alberts Lage mitunter wieder.
– O. K. Nun Lowising.
– Wen? Albert Papenbrocks Louise? No comment.
– Weil sie anders lebt, als sie betet?
– No comment,
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