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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Straßen Central Park West, die West End Avenue und der Riverside Drive, altmodisch solide und zäh verteidigte Erbstücke. Central Park West blickt vielleicht noch eine Weile auf die aufwendige Kunstlandschaft, die gemachten Seen, gespiegelte Wolken, den hügeligen Rasen unter dem Schnee, auf müßig gewundene Wege, durch offenen Himmel zu der immer noch hochmütigeren Adresse Fünfte Avenue, die selbstbewußt unter ihren Wassertöpfen hockt, wie im Abonnement angestrahlt von jeder abendlichen Sonne. Oder nehmen Sie die West End Avenue, schon dicht am Hudson, die finstere Schlucht zwischen gemauerten Ungetümen, die Käfige in den Fenstern sind aber nicht für Vögel, sondern Maschinen für Kunstluft, und Sie selber müssen es bezahlen. Womöglich finden Sie da zwischen all den Altenheimen ein Haus für eine junge Frau aus dem offenen Land. Oder in einer der seitlichen Zahlenstraßen, wo noch Einfamilienhäuser poliert sind wie edles Gestein. Da wie am Riverside Drive sind die Gehsteige rein gefegt, ist der schwere Güterverkehr ausdrücklich verboten, scheint das Wohnen wünschenswert. Es ist in dieser Gegend leicht zu finden, ein vor dem 1. Februar 1947 gebautes Haus, in dem die Mieten gestoppt sind; hier wird nicht viel gebaut. Dann haben Sie nicht mehr zu zahlen als fünfzehn Prozent über den alten Mietbetrag; das kann Mr. Shuldiner sich leisten. Gewiß.
    Nicht wahr. Und er wüßte seine Frau in Sicherheit.
    Kaum, Mr. Shuldiner. Hier ist auch das Gegenteil die Wahrheit. In vielen Seitenstraßen sind Slums. Wo die Ärmsten leben müssen, ist die Feuerpolizei noch weniger genau mit den Vorschriften; warum soll es da nicht brennen wie jetzt in Harlem? Warum sollen da nicht die Bürgersteige einstürzen wie in Harlem? Da gibt es genug Häuser, in denen müssen die Menschen, ganze Familien in einem Zimmer, gegen die Rohre schlagen, weil der Besitzer die Heizung spart. Die sich beschweren bei der Stadt mit einem Anruf alle zwei Minuten, die wohnen auch hier. Warum sollten die nicht Ihrer Frau die Handtasche wegreißen, das Messer unters Kinn halten? Und verlassen Sie sich nicht auf Mrs. Cresspahl. Die hat ein Jahr lang zwei Miethäuser in der 95. Straße für fröhlich gehalten, wegen der Bewegung in Hausfluren und Fenstern, wegen der spanischen Zurufe und Gesänge, des Lebens auf dem Bürgersteig; die hat nicht begriffen, warum das Kind nur auf der anderen Seite der Straße da vorbei wollte. Das Kind hatte die Häuser erkannt als arm, als böse; erst danach könnte auch Mrs. Cresspahl Ihnen etwas beweisen mit den Töpfen und Schüsseln, die jene Bürger auf die Fensterbretter in die Kälte stellen müssen, weil sie ihr Essen drinnen nicht sicher aufbewahren können.
    Nun einmal klipp und klar, Mrs. Cresspahl. Sie leben hier.
    Wir können Ihnen aufsagen wie aus einem Lehrbuch der Geographie, Mr. Shuldiner: Sie befinden sich im Nordwesten der Insel Manhattan, zwischen der 70. und 110. Straße, zwischen dem Central Park im Osten und im Westen dem Fluß, den Henry Hudson noch entdeckte, bevor ihn seine Mannschaft zum Verhungern aussetzte. Zwischen Süden und Norden verlaufen solche Avenuen wie der Riverside Drive; das mißversteht sich. Sie sollten es aus der Luft sehen, Mr. Shuldiner. Ein ungleichmäßiges Geschiebe aus Türmen und Hütten, eingedämmt von Hochbauten. Fast tausend Leute wohnen da in einem Block, wenige allein in Wohnungen, zu viele noch dichter an einander, als sogar das Gesetz erlaubt. Nicht einmal einen Namen hat die Obere Westseite. Früher die Holländer gründeten hier ein Dorf und nannten es Bloomingdale, aber ein Tal der Blumen ist es nicht geworden. Wenn die Bewohner unter sich von diesem Viertel sprechen, nennen sie es die area, das Gebiet, als sei es eine nichts als zufällige Ansammlung von Häusern, ein sinnloses Nebeneinander von Leuten ohne Nachbarschaft. Sie betreten das Gebiet zweckmäßig durch den Park im Broadway, wo Verdi steht mit Tauben auf dem Schädel, der jetzt Needles Park heißt, nach den Injektionsnadeln, Mr. Shuldiner. Sie wenden sich die Amsterdam Avenue hinauf, Sie bemerken die Ähnlichkeit mit ausgebombten Straßen im Weltkrieg -
    – Und ich habe Sie so sehr bewundert, Mrs. Cresspahl: sagt Mr. Shuldiner. Er sitzt schon lange krumm vornüber, beide Ellenbogen auf dem Tisch, die Schultern gekippt, und dreht sein Glas, als sei im schwankenden Spiegel der Flüssigkeit doch eine Antwort geschrieben.
    – Ich kenne mich hier nicht aus, Mr. Shuldiner.
    – Das war es nicht,

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