Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
sich das verbeten. Sie sei noch nie angeschrieen worden, und wenn er dreimal der eigene Vater sei, er solle sich vorsehen vor Cresspahl! Papenbrock fand das unerfindlich, daß Einer die Frau nicht anbrüllte, aber der gute Rat verging ihm, als der Schwiegersohn ihn mit fast freundlicher Aufmerksamkeit von der Seite ansah. Da kamen noch andere, auch Brüshaver. Cresspahl nahm den Pastor auf die Schippe und fragte ihn nach der christlichen Bedeutung des Eides, bevor er ihn ins Wohnhaus entließ, so daß der bei Lisbeth weniger forsch mit Bitten anfing, was er sich als eine Unterweisung vorgenommen hatte. Er brachte zustande, daß Lisbeth die Lüge nun nur noch von ihrer Mutter abhängig machte. Die alte Papenbrock hatte ungefähr verstanden, was der Mann und Cresspahl ihr vortrugen, aber dann fühlte sie sich zu wichtig in der Gelegenheit und erwischte in Gedanken einen falschen Zug und fuhr ab zu den Römern fünf, 1-5. Als Lisbeth zu Hause davon erzählte, saß sie so schlaff angelehnt wie bei ihrer Mutter, die Hände lahm im Schoß, nickte so ergeben, daß Cresspahl eine Stuhllehne unter der Hand zerbrach. Die war dann nicht mehr zu leimen. Die Frau von Warning versprach Cresspahl, daß Gott die doppelte Strafe auf Lisbeths Haupt legen werde. Hagemeister kam selber, wollte gar nicht über die Werkstatt hinaus, erkundigte sich eher beiläufig nach den Bäumen im Garten, sprach vom Schafscheren in Rande und hatte offenbar kein Anliegen weiter. Als Cresspahl den gehen ließ, sah es von der Werkstatt her so aus, als verspreche er ihm etwas in die Hand. An Warning hatte er ausrichten lassen: er habe nichts übrig für Leute, die in einer öffentlichen Eisenbahn, an einem Tag in diesem Jahr, sich auslaberten über Kackbraune. Verbrecher seien das. Ein Schaf habe mehr Verstand. Und ein Schaf saufe im Jahr einen ganzen Eimer Wasser nicht aus.
Dann wurde Dr. med. vet. Arthur Semig, praktischer Tierarzt, Teilnehmer des Ersten Weltkrieges und Träger des Eisernen Kreuzes, in Jerichow einvernommen, durch die Stadt zum Bahnhof geführt und in den Kellern unter dem Amtsgericht Gneez behalten.
Es war Ende September, Nachsaison, noch gutes Badewetter, als Lisbeth Cresspahl ihr Kind bei Aggie Brüshaver abgab. Der wie Cresspahl sagte sie etwas von einer Reise zum Zahnarzt. Sie ging auch richtig an die Bushaltestelle in der Bahnhofstraße, sie stieg aber nach Rande ein.
Als die Sonne hinter dem Land war und das Wasser der Ostsee kalt auch noch aussah, fiel einem ausfahrenden Fischer weit vor der Küste eine Badekappe auf. Das war vier Kilometer in die Lübecker Bucht hinaus, weit jenseits der 16 Meter-Linie. Es war dort 24 und 25 Meter tief. Sie war schon so schwach, sie konnte sich nicht mehr wehren, als Stahlbom und sein Junge sie an Bord zogen.
Stahlbom kehrte um, weil sie so zitterte und in drei Decken nicht warm werden wollte. Er dachte mehr an den entgangenen Fang, denn schon im August 1931 war eine junge Frau, eine Kindergärtnerin, zweieinhalb Kilometer weit hinausgeschwommen, wenn auch weil da das Linienschiff Hannover auf der Reede gelegen hatte und sie gleich umgekehrt war. Als Cresspahl seine Frau nachts in Rande abholte, fragte er gleich nach dem Verdienst, der zu ersetzen war, und Stahlbom hätte den Zwischenfall wohl auch vergessen, wäre er nicht dazu aufgefordert worden.
– Die Badekappe, das war mein Fehler: sagte Lisbeth am nächsten Morgen, fast behaglich in ihrer Müdigkeit liegend, mit einem spielerischen, gedankenlosen Lächeln, das dann hinter wütend gestrafften Lippen verschwand.
– Es war die Eitelkeit. Die Strafe dafür: sagte sie.
Dau dat nich noch eins, Lisbeth!
Ne, Cresspahl. Dat dau ick nich noch eins. Nich so.
12. Januar, 1968 Freitag
Mit Annie Killainen und ihren drei Kindern in der Cresspahlschen Wohnung, es ist gut leben. Die Zimmer sind nicht geräumig, das mittlere zudem mit vier Türen offen, und doch jammern die kleinen Fleurys noch am fünften Tag nicht nach den verlorenen Sälen in Vermont, und Francis R., das Knickebein, hat sich bereits Stellen eingerichtet, an denen er allein wohnt, am Sekretär der Dänin, im Spiegelschrank. Womöglich mußten die zu Hause noch leiser leben, als sie hier freiwillig fertigbringen. Auch Marie kommt gern aus mit der großen Familie, weil wir es so eingerichtet haben, daß sie ihr Zimmer aus freien Stücken den auswärtigen Kindern anbot, und weil Marie oft behandelt wird wie der Vorstand des Haushalts, regelmäßig gefragt »wie deine Mutter es
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