Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
durch die Sperren zum Boot in Richtung Manhattan, und F. F. junior hatte es bis zu einem vierten Heißen Hund gebracht und Annina Orangensaft nicht nur am Mund, auch am Ohr, und immer noch gingen Pamela und Marie jedem neuen Einfall der Kleineren nach, ob es das Abschreiten der Schiffslänge war oder Fangspiele oder die Wette, wer den Wind am längsten aushielt; wäre Francis Knickebein nicht eingeschlafen, wir hätten die Reise womöglich noch einmal gemacht. Es war wie -
– ja: sagte Annie.
– als Kind, als ich den Kopfsprung gelernt hatte. Ich konnte auf keinen nächsten verzichten.
– als ich in Italien ein Steak bestellte, und dann das zweite, und dann das dritte!
– Bei mir war es Bauernfrühstück, nach einem Spaziergang mit -
– Bei Beidendorf.
– Lach nicht! In der Nähe von Beidendorf, Annie!
– We were very tired,
– we were very merry,
– we had gone back and forth
– all night on the ferry.
– Edna St. Vincent Millay!
– Edna St. Vincent Millay.
14. Januar, 1968 Sonntag
In Queens, am Farmers Boulevard, hat Gaetano Gargiulo einen Laden. Seinen Laden wollte ein junger Mann, Nellice Cox, ausrauben, auf Gargiulos Sohn richtete er eine Pistole. Gargiulo schlich aus der Hintertür, borgte sich von einem Eisenwarenhändler in der Nähe eine Pistole, stellte sich vor dem Straßenräuber auf, drückte einmal ab. Nellice Cox wird zu seiner Hausnummer 109-82 in der 203. Straße in Hollis nicht zurückkommen, und Gaetano Gargiulo ist wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz in Haft.
– Hör zu, Gesine: sagt Marie. - Ich werde dir jetzt zeigen, was du am Donnerstagabend als Letztes gesagt hast:
– »Allerdings trug Fretwust Semigs Kriegsauszeichnungen nicht in die Effektenliste ein. Er rechnete nicht damit, daß der Jude seine Orden zurückerhalten werde. Fretwust war auch noch nicht lange Wachtmeister gewesen; von Rechts wegen hätte er im Pumpwerk Gneez den Klärschlamm absaugen sollen. Und Fretwust genierte sich nicht für den Namen; im Gegenteil war er stolz darauf.« Ja. Ist das kein Schluß?
– Nicht für die andere Geschichte, Gesine. Das will ich dir doch beweisen. Du hast gesagt, Bandposition 266:
– »Die Arbeitsdienstmädchen mochten den Einkauf von Fleisch noch nicht genug gelernt haben, Lisbeth wollte lieber, daß an ihrem Tisch mit hohen Zähnen gekaut wurde, als daß sie auf die Stadtstraße von Jerichow ging.«
– Das ist der richtige Anfang, Gesine!
– Darf ich hier mitspielen?
– Annie, du wirst es nicht verstehen.
– Mrs. Fleury, das können wir Ihnen nicht erklären. Sie werden es nie begreifen.
– Aus einer Kleinstadt bin ich auch.
– O. K. Was sagen Sie dazu, daß 1937 ein Tierarzt verhaftet wurde, weil er angeblich vor 1933 gegen ein Gesetz verstoßen hat?
– Ist das nicht längst verjährt?
– Da haben Sie es, Mrs. Fleury.
– Er wurde als Zeuge verhaftet, Annie.
– Das gibt es. Gefahr des Verdunkelns, oder wie ihr sagt.
– Wir sagen gar nichts. Seine Frau hatte Eltern in Schwerin, die Mutter Freunde in Kreisen des Herzoghauses, der Vater Kollegen aus seiner Zeit in der DEPO , der Mecklenburgischen Depositen- und Wechselbank. Das waren die Kösters. Die Kösters sorgten dafür, daß ihr Schwiegersohn in Haft genommen wurde.
– Eine prüde Gesellschaft.
– Sie taten es der Tochter zuliebe, denn nicht die Kriminalpolizei hatte die Untersuchung.
– Aha. Die politische Polizei.
– Ob die Gestapo in Gneez den R. A. D.-Führer Griem nun reinigen wollte von dem Verdacht, oder ihm anhängen, er habe sich mit Hilfe eines jüdischen Akademikers einen rechtswidrigen Vermögensvorteil verschafft, sie wußten es am Anfang womöglich selber nicht.
– Das ergibt sich doch aus den Beweisen.
– Beweise hatten sie eher zu viele. Einem Tierarzt nachreisen über fast zwanzig Jahre Praxis, von Gut zu Gut, von Bauer zu Büdner zu Oma Klug, was war da nicht alles zu finden. Ein Baron von Rammin sprach mit den Fahndern auf dem Hof und behielt das Pferd an der Hand dabei; bei den Bülows, den Oberbülows, wurden die ins Haus gebeten. Die Bülows hatten einen Sohn in England, der wollte lieber da studieren, als seine Wehrpflicht in Deutschland ableisten. Und wenn ein Bauer 1931 ein Stück Rindvieh verloren hatte, weil er sich den Abend des Sonnabend im Krug nicht verderben wollte und den Tierarzt erst am Sonntagmorgen rief, was wußte er davon noch nach sechs Jahren, und vielleicht war es ihm neuerdings recht, Herrn Dr. Semig die Schuld daran zu
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