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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Landstadt in Polen, sich als praktischer Arzt niederzulassen, er hatte doch vorher nichts ausgelassen und wußte für alle Zeiten ein Land, in dem der jährliche Urlaub schließlich zu Heimatrechten anwachsen würde.
    Ist dir das Wissenwollen vergangen, Mrs. Cresspahl?
    Das Mädchen aus Berlin, das die Ferien 1939 zwar mit ihm, nicht jedoch in Charlottenburg verbringen wollte, gab sich mit Cannes zufrieden (kannten Sie eine Familie von Lassewitz, Dr. Rydz?); vier Jahre in einem französischen Militärlazarett. 1943 Flucht über die Pyrenäen, 1945 zu Schiff nach den U. S. A., wo alle seine Examina nicht galten, wo er erst nach fünf Jahren wieder eine Praxis eröffnen konnte, gleich auf der Oberen Westseite von Manhattan, damit es doch etwas half, daß er nun nicht nur des Polnischen und Deutschen, auch des Tschechischen, Französischen, Spanischen, Amerikanischen mächtig war. Eine Praxis nur für Kinder. Es habe sich erst in New York herausgestellt, daß er Kinder am besten verstehe, oder besser als Erwachsene.
    Jetzt weißt du es, Mrs. Cresspahl. Die Unterhaltung ließ sich so leicht an, weil du ihn ansahst für einen Menschen aus Europa, wie du sie eher zu begreifen glaubst; jetzt hast du ziemlich sicher, daß er ein Jude ist. Was tat das Mächen aus Berlin-Charlottenburg? sprich es nicht aus. Frage ihn etwas anderes, nur nicht das. Ob er jemals wieder in Polen war.
    – Nein. Niemals: sagt Dr. Rydz. Seine Antwort kommt unverhofft rasch, abgehackt, das weiche Gesicht strafft sich, der Blick wird scharf und geht dann ins Leere. Er wird niemals nach Polen zurückgehen. Ruhiger, als müßte ihm an Versöhnlichkeit liegen, setzt er hinzu: Was ich an Polen brauche, läuft mir auf der Oberen Westseite ja ins Haus, Mrs. Cresspahl.
    Ob er in Berlin-Friedenau je wieder einen Besuch gemacht hat, du brauchst ihn nicht zu fragen. Was soll er bei den Deutschen, die seine Familie in Polen ausgerottet haben wie nicht Menschen. Ist nicht Cresspahl ein deutscher Name?
    – Mrs. Cresspahl, sind Sie sicher, daß Sie gesund sind? Kann ich Ihnen helfen, gnädige Frau?
     
    – Werden sie mir den auch wegholen nach Viet Nam? sagt Marie.
    – Er kann ja gar nicht gehen, Marie.
    – Auch wenn der Krieg noch wächst?
    – Der bleibt uns, Marie. Dr. Rydz werden wir nicht los.
    – Gesine, hast du gesehen, daß das ausgebrannte Haus an der 96. Straße wieder aufgebaut wird? Sie haben einen großen Kran aufgerichtet, der kann fahren! Sie haben endlich eingesehen, daß unser Gebiet nicht kaputtgehen darf, damit wir hier leben können.
    – Und wenn wir hier weggingen, Marie?
    – Nie! Nie! So etwas darfst du nicht einmal denken, Gesine.

16. Januar, 1968 Dienstag
    In der blendenden niedrigen Sonne, die am Morgen die 96. Straße hinunterkam, gegen die mit offenen Augen nur mühsam zu laufen war, am Broadway fehlte etwas. Es waren die bunten Rudel der Taxis, deren Fahrer streiken, und ihre Fahrgäste waren in die Subway gestopft, meist Herren in ernster Bürokleidung, die mit Unbehagen um sich blickten, angewidert von der drangvollen Nähe anderer Menschen.
    Herr Dr. Walther Wegerecht, Landgerichtsdirektor zu Gneez, 48 Jahre alt, als freimütig und verschlagen geltend, angesehen wegen einer wundersamen Laufbahn und einer reichen Frau, er war nicht mit Freude zuständig für das Verfahren gegen Warning/Hagemeister. Er hatte nachgerade genug von solchen Sachen, und sei es, weil sie nicht recht zu überblicken waren. So stelle ich mir das vor. Studienfreunde, jetzt im schweriner Ministerium, hatten eine Beförderung durchblicken lassen; und der Assessor Wegerecht hatte nach oben geheiratet, eine Schwerinerin, die ihm mit der Langeweile der Kreisstadt in den Ohren lag und solche Fügungen wie eine Dienstwohnung am berliner Tiergarten nicht für unerreichbar hielt. Inzwischen zweifelte er, ob er die Ratgeber weiterhin für Freunde halten solle. Anfangs hatte die Kanzlei des mecklenburgischen Reichsstatthalters verlauten lassen, die Ehre der Partei wie die ihrer Gliederungen sei höchstes Gebot, etc.; was ja billig und mit wenig Aufwand zu machen gewesen wäre, für solches Honorar. Als er in die Ermittlung eingeführt wurde, hatte er erwartet, daß sie am Rande gegen Dr. Semig geführt wurde, jedoch mußte er begreifen, daß sie auf dem Umweg über den jüdischen Tierarzt auf Griem zulief. Wenn dem zur Gestapo abgestellten Kriminalkommissar zu trauen war, so hatten die Kerle auch eine Leitung nach Schwerin, aber in die Reichshauptstadt

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