Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
geben. Saß ja schon im Gefängnis, der Mann.
– Und Griem?
– Anfangs wollte Griem nicht ran.
– Konnte sich an nichts erinnern?
– Weil er wußte, da war nichts. Und er verstand nicht, wieso die in Gneez einen Prozeß wünschten; er hätte gern erst einmal gewußt, wer da auf ihn schoß, und warum. Er hatte seinen Rang nicht als Belohnung bekommen, sondern weil er ein guter Bauer war, dem eine Ackerbürgerei in Jerichow nicht ausreichte. In großen Flächen denken, Arbeit über Jahre planen, Arbeiter anleiten, er war in der Tat dafür begabt. Allerdings, er hatte Geld angenommen, wenn er eine nasse Wiese in gräflichem Privatbesitz als volkswirtschaftlich wichtig meliorieren ließ, nämlich auf Kosten des Deutschen Reiches, mehrere Wiesen; da er aber seine Entscheidungen begründen konnte, war sein Gewissen ruhig mitgegangen. Wenn das Amtsgericht Gneez ihn aber zusammen mit einem Juden auf eine Bank setzen wollte, wäre die Frage nach seinem Konto nicht fern gewesen.
– Seinetwegen hätte Semig die Praxis weiter ausüben können?
– Seinetwegen hätten nicht einmal die Tannebaums aus Gneez flüchten müssen. Griem wollte seine Ruhe; vorderhand tat er nichts, als die Gerüchtemacherei »als feigen Angriff auf die Partei« zurückzuweisen.
– Prüde Bande.
– Inzwischen hatten die Schwarzen Zeit, fündig zu werden. In Jerichow konnten sie von einem Haus zum anderen gehen. Albert Papenbrock, Getreidegroßhandlung, hatte an Dr. Semig Honorare überwiesen, die bei einem Tagelöhner für vergleichbare Leistungen niedriger gewesen waren. Heinrich Cresspahl, mit kriegswichtigen Lieferungen betraut, hatte dem Tierarzt ein Auto abgekauft und konnte einen Vertrag nicht vorlegen. Frau Methfessel war nicht davon abzubringen, daß die Gesundheitsaufsicht das Schlachthaus nicht ausgeräumt hätte, wäre da nicht Semigs Brief nach Schwerin gewesen. Seine eigenen Krankheiten hatte Dr. Semig selbst kuriert, die Frau hatte er dem Kollegen Berling geschickt; aus und ein war Berling da gegangen, als Dora den gebrochenen Knöchel hatte, aber was er berechnet hatte, es war eher ein Freundschaftspreis zu nennen.
– Nicht zu rechnen, was sie nebenbei fanden.
– Berlings Reden über das Vaterland in Not. Dieser Cresspahl sollte ja englischer Neigungen verdächtig sein.
– Und Kollmorgen hatte die Villa in der Bäk kaufen wollen.
– Das hatten sie noch nicht ermittelt. Aber sie rechneten dem Juden Semig übel an, daß er einem verdienten Kämpfer der nationalsozialistischen Bewegung, einem Ortsgruppenleiter der Partei, kurz Friedrich Jansen, ein Kaufangebot abgeschlagen hatte.
– Und die Akten über Kollmorgens Auftreten vor Gericht gegen einen Angehörigen der S. A.
– Fanden sich passend an.
– Kommt jetzt der Prozeß?
– Der Prozeß war noch Mitte Oktober nicht im Gange. Was die Gestapo an Beweisen nicht holte, das lief ihnen in Briefen ohne Absender zu. Und Griem war noch nicht weich genug. Griem saß in seinem Hauptquartier, Gau II , und führte Reden. Er wisse den dicken Schädel als mecklenburgisches Ehrenzeichen wohl zu schätzen; nicht jedoch den vernagelten. Er tat, als könne er sich nicht vorstellen, daß die Geheime Staatspolizei nichts brauchte als zwei Mann und ein Auto, um ihn zu holen.
– Hat Papenbrock sich einen Anwalt genommen?
– Es wäre ihm vorgekommen, als gebe er damit den Beschuldigungen recht. Und außer ihm und den Cresspahls waren es noch fünf in Jerichow, die eine Vorladung nach Gneez erwarten konnten; bei so vielen Zeugen konnte die Wahrheit doch nicht anders als Oberhand behalten.
– Da war euer Semig -
– Unserer?
– Na, gut, Marie. Meiner.
– Da mußte er doch froh und zufrieden sein.
– In den Kellern unterm Landgericht.
– Da war er in Sicherheit bis zum Prozeß, und der Prozeß wurde ordentlich und gründlich vorbereitet, ganz anders als immer über diese Zeit geschrieben wird.
– Er war doch gar nicht angeklagt, Annie.
– Jetzt seht ihr mich beide an, als hätte ich gar nichts verstanden.
– Daran ist nichts zum Verstehen, Annie.
– Mrs. Fleury, wissen Sie was? Manchmal denke ich nur, ich begreife es, und kann mir das nicht glauben. Und es ist doch aus dem Leben meiner Mutter.
15. Januar, 1968 Montag
Du wolltest doch wissen, warum es jetzt so oft knallt in den Straßen. Die New York Times hat es dir herausgefunden. Der Regen von gestern abend, das dünne Schneetreiben heute mittag hat ja nicht nur dich am Nacken erwischt, das Wasser lief auch,
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