Jahrestage 2
der Familie umher, zu der Frau, zu allen vier Töchtern, als sei die Freundschaft seit 1933 ununterbrochen benutzt worden, und ließ die Familie nicht von sich weg. Die Gesellschaft saß auf der abendlichen Terrasse, im noch warmen Oktober, mit Blick gegen den Gneezer See, bei einem Mosel, der früher in diesem Haus nicht so freigebig spendiert wurde, und gesprochen wurde über das Seerecht, eine neuerliche Erwerbung Dr. Ramdohrs. Es war zu sehen, an dem Horch vor dem Haus, an inzwischen ausgetauschten Möbeln, sogar an den Tapeten, daß der Kollege Ramdohr ( - ehemaliger Kollege: schob Ramdohr ein) mehr als nötig verdiente an seinen hamburger Konsultationen und ärgerlicher Weise gar nicht der Strafe ausgesetzt war, die die Entlassung doch hatte sein sollen. Als Wegerecht spät am Abend auf die Gustloffstraße gebracht wurde, nicht wohlig sondern ärgerlich betrunken, hatte er mit der jerichower Sache kein Bein auf den Boden gekriegt, war ihm die Erholung in Versöhnung und Geselligkeit durch die Finger gerutscht, und er konnte Günti Ramdohr die Rache nicht einmal verdenken.
Erholung, wenigstens Abwesenheit und einen unbeschwerten Kopf versprach er sich vom Mecklenburg-Manöver der Wehrmacht Ende September 1937, zu dem Irmgard ihn durch Freunde im Wehrbezirkskommando Schwerin hatte einladen lassen, und schon der erste Tag war ihm verdorben. Er stand dabei, als ein höherer Führer des Arbeitsdienstes sich anlegte mit Heeresoffizieren, von denen einer im Rang über ihm war. Es ging um einen Knüppelweg, den die Infanterie verlegt wünschte, entgegen der eigenen Anweisung und Zeichnung von gestern, und zwar bis morgen, 22 Uhr 30. Wegerecht sah den bulligen, gewalttätigen Kerl zu der Entschuldigung kommen, auf der er bestand, und zwar bloß durch ausdauerndes, brüllfreudiges Pochen auf sein Recht, und ihn kam wenig Lust an, mit dem Kirschen zu essen. Dann erfuhr er, daß der Name Griem war, und daß der Name Griem sich der Beliebtheit und des Respekts erfreute. (In der nächsten Nacht, acht Uhr und null Minuten, lag der Knüppelweg im Moor, sogar mit einer Art Geländer, auf das die Armee schon nicht mehr hatte hoffen mögen.) (Und weil Wegerecht sich von dem Auftritt hatte abhalten lassen, versäumte er obendrein den Anblick Mussolinis, der wenige Kilometer weiter westlich durchgefahren war. Auf Mussolini war er neugieriger gewesen als auf dessen Begleiter, den Führer und Reichskanzler. Mussolini war doch wenigstens im eigenen Lande etwas geworden.) Dann gab es noch eine Abendeinladung auf ein Gut am Krakower See, zu der Wegerecht nicht ging, als er auf der Freitreppe den Oberfeldmeister Griem stehen sah, ein bärbeißiges Rauhbein, das inzwischen gelernt hatte, Damen den Arm zu reichen und Geschichten so zu erzählen, daß aktive Offiziere ihm zuhörten, mit gehorsamem Gelächter.
Atemnot, deutliches Herzklopfen, Anfälle von Schwindligkeit, Abfall der Leistung, Reizbarkeit.
Gab es eine Verbindung zwischen Robert Papenbrock, Erstatter der Anzeige, und Walter Griem? Auslandsorganisation der N. S. D. A. P. gegen Reichsarbeitsdienst?
Wenn er Papenbrock kannte, brachte der seine Tochter dazu, die Zeugenaussage zu verweigern. Abzuflachen. In der Substanz zu mindern. Dann saß Wegerecht da.
Wie wäre es mit einer Anklage gegen diese Lisbeth Cresspahl wegen unterlassener Anzeige? Wegen Verbreitung eines staatsfeindlichen Gerüchts? Vorschubleistung? Nach dem Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei? Artikel 1,1, vorsätzlich? Absatz 2, grob fahrlässig? Gefängnis nicht unter drei Monaten. Bis zu drei Monaten, oder Geldstrafe.
Wie wäre das?
17. Januar, 1968 Wednesday
Die Tochter Stalins, seine kleine Swetlana, sie kann den Mund nicht halten. Sitzt in Princeton, New Jersey, und fühlt sich angesprochen von Protesten gegen die Verurteilung von vier jungen Moskauern wegen Schreibens ohne Erlaubnis. Ob sie wähnt, ein sowjetisches Gericht höre auf keine Stimme so wie auf die einer Überläuferin? Womöglich will sie Väterchens Patentrechte auf die von ihm erfundene sozialistische Gesetzlichkeit verteidigen; daran sind Menschen ums Leben gekommen mehr als zu zählen sind; hier war die höchste Strafe sieben Jahre. »Wir dürfen angesichts der Unterdrückung fundamentaler Menschenrechte nicht schweigen, wo immer sie stattfindet«: hat Swetlana Hallelujah der Tagesschau des Columbia Broadcasting System gesagt; soll sie doch über Dial-A-Flower Blumen schicken auf die Gräberfelder, wo die
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