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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Dosen U. S.-Corned Beef, ein Paar Strümpfe und ein Füllfederhalter von Waterman, alles zusammen in einem alten Mehlbeutel, abgegeben von einem Mann mit Motorrad aus Berlin (aus »Westberlin«), der obendrein ein unglaublich weißes Hasenbrot zurückgelassen hatte wie etwas Alltägliches. Gesine konnte einen Absender nicht denken, auch die Fotografie dreier strammer Schäferhunde erkannte sie erst später als eine Nachricht aus dem Grunewald, von Dr. Semigs Rex. Immerhin, abgegeben war es für die Tochter von Cresspahl, aber nachdem die Eßwaren gestiftet waren für die Speisekammer, aßen sie das Hasenbrot zu säuberlichen Hälften, und Hanna durfte wählen zwischen dem Schreibzeug und den Nylonstrümpfen, die an ihren Beinen gemahnten an flatternden Nachtschatten. Es stand Hanna frei, die Strümpfe nach der Anprobe zu verschenken an Jakob, auch Gesine hatte für den Waterman keinen Würdigeren gewußt; waren sie nicht einig?
    Sahen, hörten, dachten sie nicht das Gleiche? Leslie Danzmanns Befreiung von ihren Stiefeln haben wir so einmütig angesehen, sie konnte es nach zehn Jahren noch ausführlich erzählen, mir fehlte kein stilles und kein bewegtes Bild. Das war im frühen Juni 1946, da war einmal Hanna mitgekommen zum gneezer Zug, und in der Bahnhofsstraße überholte uns eine Prozession. Vornan schritt Leslie, das Kinn steif erhoben, die Augen geradeaus, unbehilflich auf dem Katzenkopfpflaster. Ihre gesellschaftsfähigen Schuhe hatte sie im Krieg durchgelaufen, ihr einziges Paar »Unverwüstliche« von 1937 konnte die Gänge fürs Bürgermeisteramt überstehen jedoch nicht die Haft bei den Russen, so daß sie nun Schnürstiefel ihres Fritz aus dem Versteck geholt, sie ausgestopft hatte und unter langen Hosen versteckt zur Arbeit trug. Sie hätte da etwas erwähnt von Selbstachtung. Zwar war sie wegen der Inhaftierung nicht wieder ins Arbeitsamt Gneez genommen, allerdings in das Dezernat für Wohnraum, wobei die Ortsfremde die neue Verwaltung gegen die Wut der Einheimischen abdecken sollte, sie wünschte weiterhin aufzutreten als Behördenangestellte, proper gekleidet; Hanna und Gesine sahen da Eitelkeit. Dieser ranken Dame mit dem behinderten Gang war ein junger Rotarmist nachgegangen, angeregt von den unfraulichen Absätzen unter den männlichen Aufschlägen, und recht verständlich bot er ihr einen Tausch an, wenn auch nur in persönlichen Fürwörtern und Substantiven, auch unermüdlich, so daß beiden ein Haufe johlender Kinder nebenherlief, Kroppzeug, Schulanfänger, die begierig waren auf den Ausgang des Schauspiels. Leslie Danzmann rannte wie aufgezogen durch die Bahnhofshalle, hangelte sich in den Zug empor wie in ein Rettungsboot, glaubte sich gerettet. Ihr uniformierter Geschäftspartner war so glücklich betrunken am jungen Morgen, die Tür schwenkte ihm entgegen, platt fiel er in den Wagen hinein, gar nicht entmutigt, denn so hatte er von neuem sein Ziel vor den Augen. Beide Hände innig an Leslies Beinen, krebste er über die Trittbretter bäuchlings zurück auf festen Grund. Unsere Leslie, verdutzt über die blinden Mienen der Fahrgäste neben ihr, rutschte auf den Wagenboden, undamenhaft, die Beine steif voran, die Stiefel bloßgelegt, an denen der Sowjetmensch längst die Schnüre abhakte, ordentlich und nicht ungeschickt über Kreuz, unter beruhigendem Zureden weiterhin. Cresspahls Kind und das von Ohlerich hätten mittlerweile quieken können über das Stechen der Schottersteine gegen ihre nackten Sohlen, wortlos blieben sie stehen im Schatten des verrotteten Fahrradständers, sahen zu. Der Mann in der umgefärbten Wehrmachtsuniform hielt sich still am Fenster der Bahnhofswirtschaft (wo nunmehr eine Wache eingerichtet war), er war nicht so außer Sicht wie er wünschte und mitsamt seiner gefüllten Pistolentasche ein Bild der »Volkspolizei«, wie sie nach der jungen Zeitung Neues Deutschland in Gesines wie in Hannas Schule durchgenommen war. Wir sahen den Bahnhofsvorsteher an der Lokomotive, genügend entfernt, wir hörten ihn fluchen über die noch immer offene Abteiltür, in der sahen wir Leslie Danzmann angewachsen auf ihrem Gesäß, um den Mund ein gequältes Lächeln. Wir sahen den Russen sorgfältig seine Fußlappen neu wickeln, nicht ohne Not zog er die ehemals Danzmannschen Stiefel über; mit dem Abfahrtspfiff drückte er die Tür gegen Leslies Beine zu (wobei sie nach hinten kippte), vertragsgetreu warf er ihr seine Filzklamotten hinterher, beschwingt schritt er auf den Ausgang zu,

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