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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Schlegel hatte dem Hof eine Verfassung gegeben, die Neuankömmlinge waren am Ertrag beteiligt, nach den mitgebrachten Pferden wie der geleisteten Arbeit, so wie er das nach Büchern über Gutsaufsiedlung angefangen hatte, bis die nationalsozialistischen Deutschen es verboten. Dennoch gab es noch 1946 neben den Wirtschaften der geflohenen Ritterschaft des Winkels nur einen großen Hof wie diesen, nicht einmal Kleineschulte hatte dergleichen hinterlassen, und die Kinder aus Jerichow blieben am Rätseln. Später, nebenher, lernten sie solche Bewandtnisse, den ersten Abend fing Johnny anders an mit ihnen. Sie hielten die Köpfe gern über den Tellern, nicht einmal mehr aus Hunger, fast in Angst vor dem Brotherrn für viele Wochen, ein wenig besorgt, wohin denn Jakob sie verschickt hatte. Sie merkten sich, daß an diesem Tisch nicht gebetet wurde. Bei flüchtigen Aufblicken erwischten sie den Eindruck eines alten Herrn (er war achtundfünfzig), der sein Lebtag draußen gearbeitet hatte, einarmig, lächerlich lang gewachsen (er war abends einen Meter zweiundneunzig groß), turmschädelig, kahl (ihm saß noch lange ein kleines Beet krülliger blonder Haare auf der Schädelspitze), ein studierter Mensch, weil er manchmal eine märchenhaft kleine Brille aus ovalen Scheiben vor die Augen tat. Während die übrige Gesellschaft harmlos gleichberechtigt hin und her redete über den Tisch, insbesondere mit ihren Kindern, schwieg Herr Dr. Schlegel, finster rechnend sah er aus, und die Mädchen aus Jerichow fürchteten sich vor ihm. Sie sahen auch keinen Stuhl, auf dem Jakob hier sitzen könnte. Dann hörten sie Johnnys Baß, ohne jedes Räuspern im Einsatz, und sie erschraken toll. Denn er sprach von ihnen, nannte ihre Namen. Vor Gehorsam wären sie fast aufgestanden. Sie erfuhren, daß sie die Kinder von »min Fründ Cresspahl« und von Gustav Ohlerich, »een goden Minschn ut Wendisch Burch« darstellten, »good Meeklnburger Kinner un unsn Jåkob anbefåln«, »de hürn nau tau’n Hoff«. Das war alles, es verwandelte die freundlichen Blicke der Tischgenossen ein wenig zur Ermunterung hin, sie glaubten sich nun willkommen. Inge Schlegel trug nach wie vor den Ring von Alwin Paap am Finger, sie hätte recht wohl Besonderes über Cresspahl mitteilen können, obendrein wo er nicht mehr war; ganz gewiß wußte Johnny etwas weiterzusagen über die Todesart von Hannas Eltern. So erleichtert sie waren, sie glaubten doch ihren Lohn von Doppelzentnern Weizen in Gefahr, und fragten nach ihrer Arbeit. – Dat findt sick: sagte Johnny obenhin, und beide fragten schüchtern, was sich denn finden werde. Johnny hatte sie als eine Feuerwehr gedacht, wenn Hilfe am Kochtopf fehlt, Äpfel zu pflücken sind, Butter zu stampfen ist (Gänsehüten erwähnte er nicht). Haben wir nicht gemeinsam Widerrede gegeben, wohl im Stolz auf unser Alter von dreizehn und vierzehn Jahren, immerhin mit fast einer Stimme? Daß wir nicht zu Ferien gekommen seien! sondern ernstlich zur Arbeit in der Ernte! Waren wir nicht ohne Absprache einig?
    Full Måt in de Aust. Wir wollten keine Barmherzigkeit? wir kamen in den Weizen. Johnny Schlegels Kommune hatte unabsehbar Schläge stehen, etwa fünfzehn bis zwanzig Meter über der See, sanfte Bodenwellen hielten wir anfangs für eine Abwechslung. Im vorigen Sommer bei Jerichow hatten wir die Hocken verteilen dürfen übers ganze Feld, hier schickte uns die Wissenschaft zum Rand, aus den Tälern heraus obendrein, und vor der zauberhaft wiederkehrenden Maschine hasteten wir weg mit den Bündeln, die nicht viel kleiner waren als wir. Die Tage waren eilig unterwegs; wo wir gestern zugange waren, zogen schon die Pfluggespanne und stürzten die Stoppel, tief für die Drillmaschine mit Gemenge, flach für die Zuckerrüben, denn ein Tag im Juli ist so viel wert wie eine Woche im August: unterrichtete uns Johnny, der oft nachsehen kam, ob »Jakobs Mädchen« etwa aufgeben wollten. Wir hätten uns vor Jakob geschämt; er hatte uns von hier nicht Geschenke mitgebracht sondern Verdientes. Manchmal war Hanna älter als ich und sagte vom Durst: Auf See ist es schlimmer. Schlimm waren die Tage, wenn der Mähbinder ohne Garn laufen mußte, denn das Strohseil umfaßte nicht leicht den Schwaden, den die Maschine verschnüren konnte, und das Ende des Pensums war weniger abzusehen. Allmählich begriffen wir, daß Schlegel seine 150 Hektar doch wohl nicht mit Schnitten im Katasterblatt vor der Enteignung bewahrt hatte, eher hatten die sowjetischen

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