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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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deinem Herbst sein wird, stimmt’s?
    Das stimmt.
    Kennst du doch, Amanda.
    Ja. Und ein Zimmer zum Weinen brauchen wir auch noch.
    bis alle drei um den Tisch saßen als wär uns die Sprache verloren, von Freundlichkeit gerührt bis zu Feuchtigkeit in den Augenwinkeln, von Enttäuschung gereizt bis zur Wut. Gerettet wurden wir durch die Kinder, die genug hatten von der East Side Comedy im Fernsehen, dem fröhlichen Lebenswandel der Gangster schon in den dreißiger Jahren, was Marie aber nicht hatte sehen sollen. Sie verhielt den Schritt in der Tür, als sei sie gegen die verdruckste Stimmung gelaufen wie gegen eine Wand. Die Erwachsenen schämten sich gehörig, und damit nicht auch noch Clarissa gekränkt wurde, war stillschweigend das Großreinemachen beschlossen und fuhren wir mit dem Dorftaxi zum Zug um 13 : 50 ab Stamford, obwohl wir doch hätten bleiben können bis morgen früh. Seit dem haben wir nicht recht gesprochen.
    Die New York Times beschreibt noch einmal, was wir gestern gesehen haben im Kanal Sieben, die rechtshändigen Gesten, mit denen Robert F. Kennedy seinen Bruder zitierte, seinen gestreiften Schlips, sein unermüdliches Lächeln. Die Times verrät, daß er sich viele Wochen lang gegen das öffentliche Gespräch mit McCarthy gewehrt hat, eben bis dessen Gewinne in der Vorwahl von Oregon ihn zu sehr störten. Die Times hat Kennedys Frau sagen hören, daß sie ihn gar nicht anders denken kann denn als einen Sieger, und was wir in der Sendung nicht verstanden haben, setzt auch die Times in fragende Punkte, der Wahrheit die Ehre. Und aus der Heimat, der anspruchsvollen, was meldet sie da?
    In dem einen Deutschland haben die Kommunisten die leipziger Universitätskirche gesprengt, am Donnerstag, da war es bei uns vier Uhr morgens. Der Studentin Cresspahl war das Gebäude aufgefallen, weil es keine Ziegelsteine zeigte und gemacht war, zwischen anderen Häusern zu stehen, dem Augusteum und dem Bürgerhaus mit dem Café Felsche, das ganz weggebombt war. 1518 eröffnet, 1545 geweiht von Martin Luther, seit 1945 gemeinsam benutzt von Katholiken und Protestanten: lernte das auswärtige Kind auch von dieser Stelle Sachsens, sie wollte ja nicht gleich wieder weg. Nur zu einem Konzert war stud. phil. Cresspahl (erstes Semester) im Innern der Kirche gewesen, in einer Halle, der weder Schiffe noch Galerien zugeteilt waren, in einem bürgerlichen, fast wohnlichen Raum von zurückgesetzter Frömmigkeit, sehr hell, obwohl die im Dach wuselnden Fledermausfenster das Licht gar nicht nach unten abgaben. Nun war es nicht genug gewesen, den Dachreiter abzunehmen, oder bloß von der Spitze die Erdkugel mit dem Kreuz darauf, das Wendische Kreuz, es ging ohne Verhaftung einiger Studenten nicht ab, und nicht ohne Androhung von Verhaftung gegen die Leute hinter den Polizeikordons, falls sie »Empfindungen gegen die Behörden hochpeitschten«. So scheint es schief übersetzt. Es hat da Architekten gegeben, die wollten die Kirche unterbringen im Neubau der Universität, aber der »ostdeutsche Führer« sprach von alten Zähnen, die der Sozialismus zieht. Mr. U. is a native of Leipzig. Auch eine so kleine Vernunft muß den Leuten da beigebracht werden gegen ihren Willen, ihre Wünsche an das Bild der eigenen Stadt sollen sie umlernen unter Gewalt und Drohungen. »Bürger, zerstreuen Sie sich, Sie werden sonst zugeführt«: ist vielleicht eher, was die Lautsprecherwagen tatsächlich auf die Leute geworfen haben.
    Auf der gleichen Seite sieben, benachbart wie verwandt, heißt es vom westdeutschen Unterhaus, nein, es heißt Bundestag, daß 384 Abgeordnete ihre Stimme abgegeben haben für das Siebzehnte Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes. Wenn nun eine Regierung dort einen Notstand sieht, darf sie die Briefe, Pakete, Telefongespräche der Bevölkerung ausspionieren, die Bevölkerung selbst unter Waffen, an staatliche Arbeiten pressen, alles Errungenschaften, mit denen das Land dem ostdeutschen nicht eben unähnlicher wird. Da versprechen die Sozialdemokraten, keinen Mißbrauch des Gesetzes zu erlauben, als werde es eine sozialdemokratische Partei geben in Ewigkeit und so lange wie jenen Staat. Die Arbeiter haben verstanden, daß Streiks unter solchem Notstand von Bewaffneten gestört werden können; die Bürger werden übersehen haben, daß der Notstand ihre Autos beschlagnahmen wird. Die Regierung verlangt Dank für ihren Anspruch, sie habe nun aus dem Deutschlandvertrag mit den siegreichen Alliierten etwas mehr Souveränität

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