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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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für die Bundesrepublik erlöst; abgegeben haben die Alliierten ein paar schmutzige Geheimgeschäfte, ein paar undankbare Berührungen mit dem westdeutschen Staatsvolk, in ihren Kasernen bleiben sie Herrscher in eigenem Recht, und über Berlin und Deutschland als Ganzes entscheiden sie, da mag noch die Sowjetunion mitsprechen müssen. Dies nennt die Bundesrepublik souverän.
    Erklären Sie uns das, Mrs. Cresspahl. Sie sind doch auch von da her. Erklären Sie uns dies mit den Deutschen.
    Nun noch die Schularbeiten. Am 4. Mai kündigte der Verteidigungsminister der Č. S. S. R. den Besuch von Truppen des Warschauer Vertrages zu Manövern an. Dieser General Dzúr ließ glauben, sie kämen etwa im Herbst. In der letzten Woche berichtigte er sich und nannte die Zeit des Juni. Es war immer noch der 31. Mai, und schon zogen die sowjetischen Truppen über die bequemste Grenze ein.
    Auch aus Ungarn und Polen werden Mitspieler erwartet. Die ostdeutschen Kommunisten aber schicken ihre Truppen noch nicht, die sind mit ihren Genossen in Prag erst einmal böse.
    Während der Zug in den Tunnel unter dem East River zieht, ist Mrs. Cresspahl verschwunden aus ihrer schweigesüchtigen Nachbarschaft. Mit dem Licht über den kahlen Fabrikdächern von Queens kommt sie wieder, unverdächtig vom Buffetwagen, denn in den Händen hält sie drei Pappbecher mit einer rötlichen Flüssigkeit. Erstaunlich ist an solchem Tee nur, daß in ihm Eisstücke schwimmen. Bei dieser Gelegenheit wendet Marie sich doch um und nimmt der Mutter Maß mit kühlem, erzieherischem Blick. Denn wenn eine Dame doppelte Bourbons holt, wie immer gesittet versteckt, so ist Marie sicher, sie könne sich solches Verhalten nur aus dauerndem Umgang mit sowjetischen Militärpersonen angenommen haben.
    Auf den flachen Dächern draußen steht der Rest des Regens. Noch einmal muß der Zug sich in die Erde und unter den Fluß ducken, dann sind wir zu Hause.
    – Have some tea: sagt Mrs. Cresspahl, und die Freundinnen nehmen ihre Anteile an. Amanda W. kann dies nur tun mit etwas ungestümem Hochreißen des Kopfes, weiterhin bereit, beleidigt zu sein. Naomi lächelt ein wenig beiseite und schließt für kurze Zeit die Augen, als wolle sie hinweisen auf ein Geheimnis, aus dem nun wieder Amanda ausgeschlossen ist. Die anderen Reisenden versäumen, worauf sie doch gewartet haben, denn sie müssen lange vor der Zeit aufstehen und nach ihren Mänteln, ihren Taschen, Regenschirmen, Zeitungen umhergreifen. Die drei sitzen bequem und ohne Eile nebeneinander, nur daß einmal eine sagt, dies sei mal ein guter Tee, und die andere antwortet, als Tee genommen sei es nicht übel.
    Dann, im Bahnhof Pennsylvania, wollen die beiden aber nicht mit den Cresspahls in die Subway, mit der getäuschten, brüllenden Clarissa ziehen sie hinaus auf die Siebente Avenue, ein Taxi zu erjagen. Wovon wird der Fahrer sprechen? von dem Mord an seinem Kollegen Leroy Wright wird er sprechen, von der Demonstration über Brooklyn Bridge zur Bürgermeisterei, der wiederum nichts eingefallen ist als eine Trennscheibe aus Panzerglas …
    Draußen, am Ausgang zur 96. Straße, ist die Luft schwer wie Wasser. Wer schwitzen kann, dem treten die Perlen aus der Stirn so unwillkürlich wie Atmen geschieht. Marie aber wird unverzüglich sehr rot im Gesicht. Gleich, hinter unserer Tür am Riverside Drive, wird sie fragen. Sie wird den Hergang billigen; selbst ein Geheimnis mit de Rosny ist zu bewahren in einer indianischen Art. Sie wird den Hergang nicht billigen, denn wer eine Großfamilie anfängt am Sund von Long Island, er lebt nur eine Stunde von New York, und nicht gleich neun, mit Umsteigen jenseits des Atlantik. Sie wird sagen: Diese deine Dialektik hättest du auch in Europa lassen können, Gesine!
    3. Juni, 1968 Montag
    Gestern ging der Bürgermeister von Saigon die Hauptkampflinie in seiner Stadt besichtigen, zusammen mit anderen Freunden des Vizepräsidenten Ky, meist Polizeioffizieren, auch Verwandten. Sie betraten eine Schule, nun verwandelt in eine Befehlsstelle. Gleich darauf wurde das Haus in Stücke gerissen, wie von der Rakete eines amerikanischen Kampfhubschraubers. Neuerdings will die Armee dort gar nicht Hubschrauber eingesetzt haben. Die Gesandtschaft der U. S. A., voreiliger, hat sich bei der südvietnamesischen Regierung entschuldigt »mit tiefstem Bedauern und Anteilnahme«, auch bei den Angehörigen der Opfer. Der Ehrenwerte Präsident Nguyen Van Thieu, mit wiederum anderen Amerikanern befreundet,

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