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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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ängstlich und begeistert umtanzte ihn das kleine Kindervolk. An diesem Tag gingen wir beide unsere Schulen schwänzen, dauerhaft verständigt mit dem geringfügigen gleitenden Zwinkern, das aus den Augen abwärts reicht und den Mundwinkel anhebt; wir waren uns einig. Es ging gegen die Erwachsenen, um ein mitleidloses Mißtrauen (von dem wir Cresspahl heimlich und Jakobs Mutter auf eine noch weniger genaue Art ausnahmen). Waren wir uns nicht einig?
    Aber am 30. Juni schloß die Sowjetische Militär-Administration die Grenze ihrer Zone zu den Alliierten. Es waren von ihrem Neuen Leben zu viele Leute weggelaufen (Leslie Danzmann nicht), allein zu den Briten über anderthalb Millionen. Hanna hätte da ein Gesetz der Volkswirtschaft erkennen sollen. Sie sah lediglich, daß ihr wiederum eine Möglichkeit weggenommen war. Abermals fühlte sie sich eingesperrt bei uns. Wie kann Jakob ihr nun noch ein Bleiben in Jerichow eingeredet haben?
    Für die Ernte gab er uns weg zu den Schlegels. Sie wehrte sich nicht. Wir hatten es satt, jeden Morgen aufzuwachen mit einem ganz in die Länge gezogenen Magen, fast krumm zu gehen vor Hunger über den Tag, abends tapfer aufzustehen von dem Tisch, an dem die marienwerdersche Lehrerin ihr Söhnchen immer noch fütterte. Überdies hatte Jakob Besuche für die Wochenenden versprochen.
    Auf dem Schlegelhof wurden wir begrüßt als »Jakobs Mädchen«, angestellt wurden wir gleich am Nachmittag, aber zum Essen von Dickmilch mit Zucker, und gewiß durften wir mit Inge zu allen ihren Arbeiten über den Hof ziehen, nur keine anfassen. Erdbeeren pflücken hätte sie uns erlaubt, jedoch nur so viel wir essen konnten. Von außen schien das Haus ein gewöhnlicher Fachwerkbau unter einem Reetdach, vom niedersächsischen Ständertyp, wie ihn die Wissenschaft klassisch nennt; darin sollte vor uns nichts versteckt werden. Wir durften in die Grube unter der Familienstube klettern und den Destillationsapparat besehen, wir sahen das mit Sonnenblumen durchpflanzte Tabaksfeld (mehr als zweihundert Stauden), es war nun einmal geschehen, daß wir die Sammlung Karabiner bemerkten in der Ofenbank, die Fremden so massiv erschien. So gut waren wir mit Jakob eingeführt. Aber wo er hier schlief, das fanden wir nicht. Es war kein Bauernhaus mehr. Wo sonst in den Abseiten die offenen Ställe sind für Pferde und Kühe und Schafe und Schweine, waren sie hier durch Einziehen von Wänden zwischen den Ständern von der Diele abgetrennt, innen hatte ein Tischler über das Lehmpflaster Fußböden gebaut, die Stalluken waren zu ordentlich zweiflügligen Fenstern vergrößert, so daß je drei fast quadratische Zimmer die Diele an beiden Längsseiten umstanden, sechs Türen hinausgingen auf den großen Eßtisch, der fast vom Tor bis zur Küche reichte. Von Nordosten zog Seeluft hinein, überall roch es trocken nach warmem, sauberem Holz, die Wände wie die Türen wie die Fenster waren heil, als sei hier der Krieg nicht vorbeigekommen. Auch war Inge Schlegel gar nicht ängstlich, ganz allein auf dem Hof zu sein mit einem höflichen Dobermann und noch zwei halbwüchsigen Mädchen. Die Wirtschaft des Hofes war auf der anderen Seite untergebracht, in einem Ziegelbau, dem das fabrikmäßige Äußere mit dem zweiten Blick auf das moosfreie Reetdach wieder abging. Darin schien der zehnjährige Drescher von Schütte-Lanz zwei Jahre alt, so geschmiert und geputzt, eine Schmiede aufgeräumt wie für die Ausstellung, in den Vorratskammern die Regale reichlich bestellt mit Kanistern, Fässern, Kisten, die Ställe rochen besetzt und belebt, in der Suhle liefen die Schweine frei herum, so daß die Kinder wiederum die Einbildung von Frieden nicht loswurden, denn alles konnten sie nicht erklären mit dem Wald, der in halbem Kreis um das Gehöft zur See und nach Osten stand. Abends, mit dem Einzug der Mähmaschinen und Erntewagen, merkten sie, daß der Krieg hier vorbeigekommen war und wohnte. Die Zimmer längs der Diele, einst Wohnungen der Arbeiter und gelegentlich von Badegästen, waren nun besetzt mit Flüchtlingen. Aber sie waren nicht wie die Flüchtlinge, die in Jerichow waren. Diese waren mit offenen Augen auf Schlegels Hof gekommen, sie hatten gleich nicht sich hingelegt und auf Mitleid gewartet, sie wollten ihr Essen und die Unterkunft mit Arbeit verdienen. Obwohl es allerdings dem Grundbesitz eines anderen zugute kam, nicht dem im Osten verlorenen, waren die meisten doch länger als ein Jahr hier und wollten wenige weiter. Johnny

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