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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Schritte zurücktreten; in der Kleiderkammer dann waren die Kapos ohne Zeugen und konnten ihn sehr lange mit Prügeln triezen, bis er das Gewünschte aufsagte: Als alter Nazischeißer / Geh ich am Krüppelstab / Die Hosen voller Scheiße / Geh ich ins Scheißegrab. Das deutsche Verwaltungspersonal machte sich eben auch noch Gedanken dazu, daß an Kleidung nur die der Verstorbenen auszugeben war. Er behielt aber sein altes Hemd und spülte die Eiterplacken aus dem fremden, nach der dritten Wäsche konnte er dafür das Unterteil einer Fischdose eintauschen, angerostet zwar, aber heil. Fielen die Kapos über einen Häftling her, machten die anderen sorgenvoll Platz, nur nahm sich das hilfreich aus und als wollten sie es den Schlägern bequem machen. Was immer da zu lernen war, Cresspahl mag sich das Falsche ausgesucht haben.
    So viele Leute aus Mecklenburg (wenn auch kaum einer unter den Kapos), und so leicht waren sie zu verfeinden mit einander. Sollte das eine Lehre sein? Die Kapos zahlten mit Brot, mit halben Zigaretten, ganz selten mit einer Stelle im Kommando der Friseure, das brach den Zusammenhalt schon auf. Cresspahl sah einen (er verweigerte den Namen), den quälten seine Nachbarn zum Zeitvertreib oder weil sein verschrecktes, nahezu weinerliches Gehabe sie einlud. Mit wilden Erzählungen von der Ostfront zogen sie ihn ins Geheimnis, sie riefen seine Kameradschaft an, dem wollten sie mit Geschenken von Suppe Freundschaft beweisen, dem versprachen sie einen Pfeifenkopf voll Tabak; endlich vertraute er ihnen, Verschwiegenheit versprochen, und erzählte seine Herkunft und die Freistellung als Violinist bei den Staatsakten und Festen des Reichsstatthalters Hildebrandt; nicht lange, da ließen die Kapos den seine dekorativen Stellungen und Gänge nachmachen, wie man ein Tier abrichtet. Der weinte dann, aus Erschöpfung oder weil der Stolz hin war; seine Kumpels ließen den aber nicht weglaufen in den elektrisch geladenen Außenzaun, mit trüben Mienen bewachten sie ihn, kaum beschämt oder schuldbewußt, sondern weil die Operative Abteilung mit solchen Todesfällen vertraut war und deren Unergiebigkeit ausließ an den Mitwirkenden. Die zeigten Erleichterung, als die Sowjets ihren Geiger abführten wie ein tolles Tier; wären sie im Recht gewesen, wenn es ihnen die Entlassung verschafft hätte? Entlassung kam in nicht einem Gerücht vor. Cresspahl hörte in einen der verbotenen Kulturzirkel hinein, die Diskussion ging um die Haager Landkriegsordnung und unrechtmäßige Einkerkerung von Zivilgefangenen in einem Kriegsgefangenenlager; er hielt sich in der Nähe des Redners bis zu seiner Festnahme, damit er nicht zu verdächtigen war als Anzeiger; er verkniff sich den völkerrechtlichen Kommentar, daß Fünfeichen seit 1945 ein Spezlager der Sowjets war. Ein siebzehnjähriger Deserteur, »auch versehentlich hier«, hatte den Erwachsenen die Geiselerschießungen in der Sowjetunion vorgehalten, etwas heftig im Ton; dafür hatten sie ihn nachts verprügelt und versehentlich erstickt. Ein Sanitäter, drei Jahre Medizinstudium, hielt Vorträge über den faktischen Kalorienwert und den, den die Lagerleitung für das klitschige Brot berechnete, mit dem gar nicht geplanten Ergebnis, daß die Sowjets die Tabellen der S. S. für deren Konzentrationslager müßten übernommen haben; dem Studenten war kaum eine Stunde zu früh oder zu spät gewesen, einem Häftling ein Geschwür auszuräumen oder ihn zu beraten, alle hörten ihn an, mit einem Wort hätten sie ihn retten können vor dem Isolator; auch Cresspahl hielt den Mund. Was waren das für Tugenden, auf die er verzichtet hatte? oder waren es neue? Noch im März wurden Leute eingeliefert, die den hiesigen Abstand vom Zivilleben nicht begriffen und ungeniert prahlten mit ihren Parolen auf den Wahlkampfplakaten einer Sozialistischen Deutschen Einheitspartei, womit sie die geringere Papierzuteilung an die bürgerlichen Parteien hatten ausgleichen können; schon waren sie im Bunker, zurückkommen würden sie nicht. Der Vorgang hieß abgehen, wie ein Ersatz für Sterben; Cresspahl schickte seine Gedanken unentwegt rund um die Neuigkeit, daß die Sowjets nicht ohne Wahlen auskamen und daß für so etwas Papier genommen wurde. Ein Zugang erzählte als ein Kriegsverbrechen, daß die Sowjets die Stadt Neubrandenburg in Brand geschossen hätten, so daß der Mauerring fast säuberlich leergeräumt war, bis auf die Große Wollenweberstraße, dann ging er ab; Cresspahl sagte da nichts von

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