Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl
der verweigerten Kapitulation der Stadt und mühte sich in Gedanken an einer Zeichnung des abgeräumten Rathauses, eines niedlichen Kästchens mit einem Dachreiterchen von Turm in der Dachmitte, indem da sine Buort utsach, as wenn dat vor langen Johrn ut ne Wihnachtspoppenschachtel namen wir un wir up den Markt von de Vödderstadt Nigenbramborg henstellt, dat Magistrat und Börgerschaft dor en beten mit spelen will. Zugegeben, er war blöde geworden von Entkräftung, von dem tagelangen Hocken im Gestank und Geschwätz der Baracke; er mochte verwirrt sein, weil er so oft an den anderen vorbeidachte; kann er übersehen haben, daß ihm bloß Mut abging? daß er aus Mut nichts mehr tat? Wie benahm er sich denn, wenn ein Neuer in die Baracke geführt wurde, gestern noch am Abendbrotstisch in Penzlin, nun mußte er sich von Pritsche zu Pritsche stoßen lassen und fand Platz auf Dielen, durch die der Wind zog; warum ließ Cresspahl den ganz allein herausfinden, daß er interniert war, daß er nie und nimmer der Familie würde Nachricht geben können, daß die faulige Plörre allerbeste Morgensuppe bedeutete und der Weg durch das Lazarett nicht zur Bequemlichkeit führte sondern ins schmutzige Verrecken? Er kannte die nötige Hilfe; ihm selber war sie nicht gegeben worden. War das Gleichgültigkeit? Wozu hatte er sich entschlossen?
Für Freunde tat er gelegentlich etwas. Im August 1947 stand Heinz Mootsaak in der Tür der Baracke, in Hosen und Hemdsärmeln wie vom Feld weg mitgenommen. Er sah ganz töricht aus, denn nach der Stille zwischen den Stacheldrahtzäunen und Bretterbuden mochte er nicht eine so laute und gedrängt eingesperrte Versammlung vorausgesehen haben; er war noch der Bauer, der befangen und höflich eine Stube mit anderer Gesellschaft betritt. Für den stand Cresspahl auf, dem wandte er den Rücken zu, damit er das gegenseitige Erkennen nicht verriet und sie einander später zufällig treffen konnten, ohne Verdacht der anderen. Da verrechnete er sich, das übertrieb er. Denn Heinz Mootsaak hatte nicht geahnt, wen jenes klapprige Gestell in den gemischten Uniformlumpen denn vorstellen sollte; am nächsten Morgen war er schon abgegangen in den Bunker.
Im Oktober, es war schon kalt, wurde Cresspahl in eine Fluchtgeschichte gezogen von zwei Insassen, die womöglich Anstoß nahmen an seinem neuen Begriff von Geselligkeit. Sie konnten ihn nicht gut anwerben als vollwertigen Partner, sie gaben sich menschenfreundlich. Der Cresspahl von früher hätte nicht gezögert, seine Miene deutlich gehalten und bloß der Ordnung halber hinzugefügt: Dumm Tüch. Dumm Jungs ji. Der von 1947 zögerte, einem guten Auskommen zuliebe, antwortete gefällig: Dat litt de Ridderschaft nich. Er kam los, indem er Bedenkzeit verlangte, nun hing er drin. Mittlerweile war im Saal herum, daß der maulfaule Sauertopf endlich angebissen hatte, oder daß ein neues Dreiergespann ein Ding auskochte. An dem Plan war schlechterdings nichts zu bedenken. Es würde Monate brauchen, drei Bodenbohlen in einem so zu lockern und zu befestigen, daß kein harmloser Tritt sie hochknallen ließ und sie doch nächtlich in wenigen Minuten auszubauen waren. Die wollten unter den Baracken 10 und 11 S hindurch an die südliche Kante des Lagers, dann dicht am Draht und mittleren Wachturm entlang, wiederum unter der ganzen Länge von 18 S bis zum inneren Stacheldraht, darunter ans Notstromaggregat, die Ladung ausschalten und schließlich mit Gewalt über den letzten Zaun nach draußen, ziemlich genau in Richtung der sowjetischen Stabsbaracke, hinter der allerdings ein Fahrweg verlief. Der eine gab sich für einen Elektriker aus. Weder aus Mitleid noch aus Fürsorge versuchte er ihnen das auszureden; nur wollte er ihnen nichts schuldig sein. Er erwähnte die schwenkbaren Scheinwerfer der sowjetischen Posten, fünfhundert Meter Kriechen und Buddeln in einer einzigen Nacht, die leere Umgebung weithin. Der Umgänglichkeit wegen lobte er wenigstens an dem Fluchtweg, daß er gleich wegführte von der kilometerlangen Ostkante des Lagers. Er warnte sie vor bewaffneten Streifen in der Forst Rowa, den nassen Wiesen von Nonnenhof, den ausgedehnten Sperrgebieten der Roten Armee nördlich Neustrelitz. Der eine tat gekränkt, der mochte der Verfasser sein. Beide bedankten sich, daß es drei Pritschen weit zu hören war, das fiel nach dem Flüstern gehörig auf.
Nach den zweiten vierundzwanzig Stunden glaubte Cresspahl sich außer Gefahr, so spät wurde er der sowjetischen
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