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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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ordensgeschmücktem Blouson, das weit über die bauschigen Breeches fällt, den Kopf unterm erdfarbenen Krätzchen erhoben, das Schnellfeuergewehr in Vorhalte, treibt der Armist den Häftling über die Lagerstraße voran, von Wissenschaft gehärtet und mit belustigter Verwunderung hält er auf kurz angebundene und verschlossene Art die Patienten in seinem Bann, – alle diese Individuen, die, zu schwach, sich selbst Gesetze zu geben und sie zu halten, ihm ausgeliefert sind mit Leib und Bewußtsein, um sich von seiner Strenge stützen lassen zu dürfen.
    Es dauerte bis in den frühen Sommer, bis Cresspahl zu sich kam; er war wütend bedacht, es zu verbergen. Er hielt sich allen Ernstes für mulsch, angegangen, für abgerückt aus der Welt und danebengesetzt.
    Zum einen, in seiner Erinnerung fand er nicht, wie er vom Kloster Malchow nach Fünfeichen hätte kommen können. Er kannte die Rote Armee aus dem ersten Herbst nach dem Krieg, die hätten ihn am Wiwerbarg erschossen, wenn er denn da aus den Pantinen gekippt war. Daß die Leute im Transport, Fremde, ihn mitgeschleppt hatten bis Waren und Penzlin und an den Tollense-See, es war nicht zu glauben. Ohne Ahnung war er auf einer unteren Pritsche im Lager Fünfeichen aufgewacht, wie von Nirgends her, zum Essen zu schlapp, zum Augenöffnen zu müde, lästig am Leben. Zum anderen, um sich in der stramm belegten Baracke hörte er wieder und wieder sprechen vom Lager Neubrandenburg. Dies aber war Fünfeichen, vier Kilometer vom Stargarder Tor; noch 1944 hatte er in dieser Gegend für die Briten nicht nur den Fliegerhorst Trollenhagen ansehen sollen, auch wie die Deutschen in Fünfeichen ihre Kriegsgefangenen hielten. Wenn er seinen Augen trauen wollte, war er im alten Südlager von Fünfeichen, in der Baracke 9 oder 10 S, neben dem Stacheldraht des Gemüsegartens, nach Burg Stargard hin, und im Norden war der eingezäunte Komplex der Werkstätten und Kammern wie auf seiner Zeichnung von damals. Konnte er sich der maßen versehen? Warum dachten alle Neubrandenburg, nur er Fünfeichen? Zum dritten, warum kam er nun immer noch nicht los von dem Verlangen nach einem Prozeß, damit es zu Ende war? Hier war er doch am Ende.
    Er suchte im Lager nach den Häftlingen, mit denen er von Rabensteinfeld gekommen war. Er wußte kaum noch ein Gesicht, unter zwölftausend ist arg suchen. Aus der Baracke wurde die Belegschaft nur getrieben, wenn die Operative Gruppe der Lagerleitung mit den deutschen Kapos zum Filzen der Lagerstätten anrückte. Er fand keinen aus diesem letzten Stück Vergangenheit, denen allen hatte noch ein Weg wohin bevorgestanden, er war hier abgestellt, endgültig ausgeschieden. Die Kapos warfen beim Filzen nicht nur die Lumpen durcheinander, sie kippten auch Bettstellen um; die Häftlinge stritten für Stunden um beschlagnahmte oder verwechselte Besitztümer. Cresspahl konnte da zusehen. Bei der Verteilung der Suppe mußte er warten, bis ihm einer das eigene Geschirr zuschob, verächtlich wie einem kranken Hund, dann war der Kessel oft leer, dennoch mußte er für das Leihen mit Abwaschen bezahlen. Einen Napf für sich selbst hätte er bald gehabt, wäre nicht auch für die Erlaubnis zur Arbeit zu bezahlen gewesen. Was er am Leibe trug, galt nicht mehr als Handelsware. Er meldete sich gleich, als die deutschen Kapos Ersatzleute brauchten fürs Latrinenkommando; er mußte vor den wohlgenährten Vertretern der Sowjets zehn Meter Paradeschritt aufführen mit dem zackig gebrüllten Ruf: Ich bin ein altes Nazischwein und will Scheiße tragen! Die Arbeit bekam er doch nicht. Er wollte für gut ansehen, daß ihm so der Gestank erspart war; ihm ging bald auf, daß die anderen Häftlinge von ihm abrückten, so wenig da Platz zum Rücken war, denn er stank. Er hatte zu lange im eigenen Dreck gelegen, bewußtlos oder schlafend, was immer das gewesen war; nun konnte er sich gegen die Flöhe und Läuse nicht wehren. Heißes Wasser hatte einen Preis, er hätte ihn erlegen können mit Auskünften über seine Bettnachbarn; er wußte nicht einmal Bescheid, die Kapos überstellten ihn den Sowjets wegen nächtlichen Verlassens der Baracke, aus der sie ihn nächtens geholt hatten. Vom Karzer hatte er Alleinsein erwartet, er war da eher enger mit anderen zusammengepfercht als in der Baracke, nur eben im Dunkeln und ohne Essen. Eben weil eine Vogelscheuche heilere Fetzen trug als er, meldete ein Kapo ihn (wegen Vernachlässigung) bei den Sowjets, von denen mußte er augenblicks fünf

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