Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Leitung zugeführt. In der Stabsbaracke lag als unterschriebene und beeidete Aussage auf dem Tisch: Anstiftung zur Flucht durch den Internierten C., bedenkenloser Anschlag auf sowjetisches Volkseigentum, beleidigender Vergleich der Roten Armee mit der Kaste des Feudaladels. Beigeordnet waren Skizzen des Südlagers und des fortgesetzten Fluchtweges über Nonnenhof und Liepskanal, rekonstruiert nach den Vorschlägen des Angeklagten. Wiederum nahm Cresspahl sich Gelegenheit, den deutschen Kapos die Sowjets vorzuziehen. Deren Operative Abteilung betrat Lagerstraße und Baracken ohne Waffen, sie verordneten nicht schlimmere Strafen als Strammstehen bis zu drei Stunden, und wenn doch einer zuschlug, so offenbar aus einer Verzweiflung, die eben noch Gutmütigkeit gewesen war und mehr nicht ertragen konnte vom Benehmen eines Gefangenen, in was immer der sich nun vertan haben mochte. Vor allem aber, die deutsche Lagerverwaltung verschärfte Befragungen mit Wurstbrot in Reichweite des Internierten, vor seinen Augen wurde Kaffee in Tassen gegossen, Gerstenbrand zwar, aber heiß und mit Milch; die Sowjets hielten ihre Verhörzimmer als Büro. Sie schlugen ihn wahrhaftig nicht. Wegen der Redensart von der Ritterschaft mußte er anderthalb Stunden am Ofen stehen, das Rückgrat durchgedrückt, die Hände starr an eingebildeter Hosennaht. Als er die ehrenrührige Wendung auch dann nicht anders zu deuten wußte als mit dem Übergewicht des Adels im Mecklenburgisch-Schwerinschen Landtag von 1896 und der abseitigen Lage des Bahnhofs Malchow, legten die Herren ihm ein Protokoll hin. Darin durfte er alle Vorwürfe abstreiten, bis eben auf das von zu vielen beobachtete erste und letzte Gespräch, er unterschrieb. Inzwischen, morgens gegen vier, betrugen die Offiziere sich jovial, wenn auch nicht ohne Verachtung für solch Wrack von einem Menschen. Die dankten ihm für seine wahrheitliebenden Angaben, bedauerten die Störung seiner Nachtruhe und sprachen die Hoffnung aus, er möge wieder in den Schlaf finden. Dann übergaben sie ihn den deutschen Kapos.
Die Kapos hielten ihn in einer Strafzelle des Nordlagers bis zum nächsten Mittag, immer vier wechselten einander ab, sie benutzten Peitschen. Kann Einer Sprechen verweigern aus keinem anderen Entschluß als daß er nicht sprechen will? Woher will er wissen, daß er auch kurz nach dem Verlust des Bewußtseins geschwiegen hat? Genügte der Fehler, ihn gleich so scharf zu verletzen, daß er auf nichts mehr achten mußte als den Schmerz? Kann Einer anderen jedes Wort vorenthalten, nur weil er sie nicht versteht?
Als die Sowjets ausgiebig genug geprüft hatten, wozu die Deutschen unter einander imstande sind, befahlen sie den Abbruch der Vernehmung. Die Kapos der letzten Schicht schluckten sauer daran, daß sie in Person das reichlich blutende Bündel über die Lagerstraße schleppen mußten. Die Sowjets ließen die gewöhnlichen Internierten nicht anfassen, allerdings zusehen. Sie brauchten die Kapos gewiß als kräftige Jagdhunde, die sollten nicht etwa an Beliebtheit weich werden. Da die russischen Posten die Überführung bis zum Ende verfolgten, wurde Cresspahl fast zart auf eine Pritsche bei den Friseuren im Nordlager gebettet.
Verwachsen waren die Wunden erst im nächsten Sommer, gehen konnte er Anfang Dezember. Da fing er von neuem an: Eßgeschirr, heißes Wasser, Fußlappen. Bei den Insassen des Lagers Nord wurde er gleich als ein Verrückter bekannt. Denn auf die Frage nach seinem Schweigen bei den Kapos hatte er tatsächlich etwas zu erklären, es klang zuverlässig wirr.
– Ick mücht de nich: sagte er. Er hatte die nicht gemocht.
Sie versuchten es zu Weihnachten noch einmal und boten ihm eine Stelle im Leichenkommando an,
eine Chance
der Bewährung
eines Sinneswandels und
einer Wiedergutmachung sowie
der Verzeihung
der Gemeinschaft
mit Essenszulage und einem Wechsel Bekleidung. Da es Arbeit war, mit Bewegung, machte die Aussicht ihm zu schaffen. Warum sollte er nicht zustandebringen, was andere konnten? Die Toten sahen aufgeschwemmt aus, viel Gewicht hatten sie nicht mehr. Meist waren es wenige Gänge in einer Woche, immer zu zweit an einer Trage. Es kam darauf an, daß er den Tag überstand, an dem die Leichen aus dem Sammelkeller zu räumen und auf den Lastwagen zu zerren waren; auf der Fahrt zum Friedhof am Fuchsberg hatte er Zeit zum Ausruhen. Ihn graute gar nicht vor der Aufgabe, die Leichen zu entkleiden vor dem Verscharren, eher traute er sich das Ausschachten
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